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Urbild und fotografischer Blick

Mit den fotografischen Tendenzen in der Malerei noch vor der eigentlichen Entstehung der Fotografie untersucht die Autorin ein geistesgeschichtliches Phänomen von so grunsätzlicher Bedeutung, dass sich der Leser nach der Lektüre dieser wunderbaren Studie verwundert die Augen reibt und fragt, warum denn bisher noch niemand auf die Idee kam, sich so umfassend wie Annette Geiger mit diesem Thema zu beschäftigen. Ein Glück für die Autorin - und zugleich ein Glück für die Leserinnen und Leser der Untersuchung, ist diese doch von der ersten bis zur letzten Seite aus einem von Begeisterung geprägten Interesse heraus formuliert, wie es für kunstwissenschaftliche Studien heute eher unüblich ist. Daher dürften sich auch Leserinnen und Leser, die nicht aus diesem Bereich kommen oder fotografisch tätig sind, von "Urbild und fotografischer Blick" sehr angesprochen fühlen. Das Buch macht auf unterschwellige Entwicklungen und Zusammenhänge aufmerksam, die bei der Betrachtung von Bildern und Fotografien leicht übersehen werden können und bringt "als Beitrag zu einer Philosophie der Fotografie und zu einer Mediengeschichte des Bildes" (S. 8) wirklich Neues.
Die Autorin kann überzeugend aufzeigen, dass sich die Entstehung der Fotografie vor dem Hintergrund einer Entwicklung vollzieht, deren Movens in der "Sehnsucht" liegt, "der Urbilder durch registrierende statt entwerfende Verfahren habhaft zu werden" (S. 148). "Die Fotografie", so lautet eine folgenreiche These von Annette Geiger, "wird als eine Prothese für unser Sehen erfunden" (ebenda). Und es ist daher nur konsequent, wenn im ersten von drei Kapiteln die Kunsttheorie Denis Diderots unter dem im 18. Jahrhundert ja so wichtigen Aspekt der Wahrnehmung und mit Blick auf Platons berühmtes Höhlengleichnis ausführlich diskutiert wird. Der Leser wird dadurch in angenehmer Weise mit den philosophischen Kernfragen, um die jene Zeit erkennend stritt, vertraut gemacht. Ein Vorteil, der sich bei jedem späteren Museumsbesuch und einer Betrachtung von Bildwerken des 17. und 18. Jahrhunderts unweigerlich auszahlen wird.
Kenner und Kennerinnen der Malerei Jean-Baptiste Siméon Chardins wird es gewiss nicht verwundern, dass im zweiten Kapitel gerade an den Werken dieses faszinierenden, von Diderot so geschätzten Künstlers "die Grenzen der Beschreibungskunst" (S. 65) und der Weg in der Malerei hin "zur reinen Sichtbarkeit" (S. 78) aufgezeigt werden und ein Verfahren der Abbildungskunst vorgestellt wird, das die Rezipienten vor völlig neue Herausforderungen bei der Beschreibung des Gesehenen stellte. Nur ein kleiner, jedoch folgenreicher Schritt ist es danach - im dritten und letzten, "Die Aufklärung des Sehens" überschriebenen Kapitel - zur Frage eines "fixierten Sehens" (S. 136) hin. Annette Geiger bescheibt diesen, sich historisch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abspielenden Prozess, bei dem sich der Künstler immer mehr aus dem von ihm selbst geschaffenen Werk zurückzieht, am Beispiel der visionären Konzeption des Architekten Etienne Boullée, dessen Plan eines Newton-Kenotaphs aus dem Jahre 1784 sie in eigenwilliger Weise stimmig mit einer spezifischen Lektüre des platonischen Höhlengleichnisses in Beziehung setzt. Gleichsam ihre eindrücklichen Analysen zusammenfassend und als Ausblick schließen sich Überlegungen "Fotografische Malerei und malerische Fotografie" (S. 150-180) betreffend an – eine ebenfalls gelungene Handhabe für die eigene Beschäftigung mit Bildwerken kurz vor Erfindung der Fotografie. Den Schluss des Werkes bilden einige Hinweise zur Weiterentwicklung der frühen Fotografie als einer eigenständigen Kunst.
Annette Geigers Studie bietet Lehrerinnen und Lehrern für die Arbeit in der Schule, allen an der Universität Forschenden wie auch an der Geschichte der Malerei Interessierten und natürlich jedem professionell fotografisch Arbeitenden in vielfältiger Weise Anregungen für die eigene Tätigkeit.

Matthias Mochner
Geiger,Annette: Urbild und fotografischer Blick. Diderot, Chardin und die Vorgeschichte der Fotografie in der Malerei des 18. Jahrhunderts. 208 S., 47 Abb., Br., Wilhelm Fink, Paderborn 2004. EUR 32,90
ISBN 3-7705-3974-5
 
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