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Die Thraker. Das goldene Reich des Orpheus

Archäologie ist diejenige Wissenschaft, die in der Gegenwart das vielfältigste und quantitativ umfangreichste Material bereitstellt, über das sich der Mensch - im Bemühen, ein Bewusstsein der eigenen Geschichtlichkeit zu erlangen - mit der Vergangenheit verbinden kann. Ausstellungen wie die seit rund dreißig Jahren an verschiedenen Orten in Europa gezeigte, jeweils um neueste Forschungsergebnisse aktualisierte Präsentation der antiken Kulturen Thrakiens, dem heutigen Bulgarien, dürfen für sich in Anspruch nehmen, hier inzwischen erhebliches geleistet zu haben.
Obschon die vorliegende Begleitpublikation, wie viele vor ihr auch, im Titel explizit mit dem Faszinosum des Goldes wirbt, vermeidet sie es doch erfreulicherweise, dieses explizit in Text und Bild in den Vordergrund zu stellen. Nicht minder erfreulich ist, dass sie nicht nur im Fall der Beschreibung einzelner Objekte, wie zum Beispiel dem so genannten Dionysos-Service aus der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts vor Christus (S. 199), den Mut aufbringt, das Vorfindliche zu interpretieren - und nicht nur zu dokumentieren. So wird die Wertschätzung des Metalls Gold in den antiken Kulturen transparenter, seine Verwendung zur Versinnbildlichung überzeitlicher Wirklichkeit, wie dem für die thrakische Kultur so entscheidenden Mythos von Orpheus, begreifbar.
Der entsprechend der sieben Saiten der Leier des Orpheus in sieben Kapitel gegliederte und mit sehr anschaulichen Karten (insgesamt 16 an der Zahl) ausgestattete Katalog versammelt 20 Aufsätze von zwölf Autorinnen und Autoren. Zu den bemerkenswertesten Überlegungen zählen die Ausführungen von Alexander Fol über "Die thrakische Orphik oder Zwei Wege zur Unsterblichkeit" (S. 177-186). Dem Autor gelingt es überzeugend, die Komplexität der thrakischen Kulte für ein modernes Bewusstsein, das Götter nicht mehr kennt, zu erschließen, indem er die mit der Gestalt des Orpheus in Verbindung stehenden Kulte und Zeremonien der Thraker in ihrer Dynamik vor dem Hintergrund der noch älteren vorgriechischen Mysterien von Samothrake beschreibt. Ähnlich spannend, und gewiss für nicht wenige archäologische Wissenschaftler anfangs vielleicht ungewohnt, sind Maja Vassilevas Gedanken in "Thrakisch-phrygische Kontakte" (S. 187-194), ein Aufsatz, der die rätselhaften Felsheiligtümer - etwa dasjenige von Harman Kaja in den östlichen Rhodopen - in neuem Licht erscheinen lässt. Mit anderen Augen sieht der Leser auch nach Elka Penkovas Ausführungen über "Das mythische und das legendäre Thrakien" die Symbol- und Formensprache gerade der in den Gräbern gefundenen kostbaren Ritual- und Zeremonialgefäße. Und in Valerie Fols knapp "Kultstätten" überschriebenem Text (S. 213-224) findet sich im Hinblick auf die megalithische Zeit Thrakiens der bedenkenswerte Satz: "Die Achtung vor dem heiligen Stein ist in prähistorischer Zeit zunächst eine geistige und dann erst eine bautechnische Frage" (S. 213). Folgenreich ist auch die Erkenntnis Georgi Kitovs in dem Aufsatz "Hügel, Gräber, Tempel" (S. 239-266), einem nicht nur umfangreichen, sondern im übrigen auch passend illustrierten Text, dass die "Lage der Tempel (...) einer gewissen Gesetzmäßigkeit folgt", dass diese nämlich so gebaut sind, "dass sie oft und regelmäßig besucht werden konnten" (S. 248).
Wechselseitige Beeinflussungen und Prägungen der thrakischen Kulturen von der Frühzeit bis zur Begegnung mit dem frühen Christentum werden im Spiegel der Funde sehr deutlich. In diesem Kontext herausragend sind die zahlreichen, im Katalog bestens dokumentierten, anthropomorphen Gefäße des Neolithikums. Was aus den Antlitzen dieser Formen spricht, gehört mit zum rätselvollsten, was die europäische Kulturgeschichte hervorgebracht hat und ist dabei von einer Ästhetik und Schönheit, welche der abstrakten Kunst des 20. Jahrhunderts entlehnt sein könnten. So bleibt vielleicht nur ein kleiner Wermutstropfen, dass die grandiosen thrakischen Grabmalereien - etwa die aus der zentralen Kammer der Kuppelgrabanlage von Aleksandrovo - lediglich in nur zehn Abbildungen vorgstellt werden. Das Buch ist eine Empfehlung wert.

Matthias Mochner
Fol, Alexander /Lichardus, Jan /Nikolov, Vassil: Die Thraker. Das goldene Reich des Orpheus. Katalog-Handbuch zur Ausstellung, Bonn, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, 432 S., 490 meist fb. Abb. 28 cm. Gb Zabern, Mainz 2004. EUR 45,-
ISBN 3-8053-3341-2
 
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