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Die Kunst der Interpretation: Französische Reproduktionsgraphik von 1648 bis 1792

Die Reproduktionsgraphik war über Jahrzehnte das Medium des internationalen Kunsttransfers und ermöglichte kulturelle Kommunikationen weit über die engen Stadt- und Landesgrenzen hinaus. Trotz ihrer einstigen Wertschätzung fristet die Druckgraphik heute eher eine Art Schattendasein, und zwar nicht nur aufgrund ihrer Verwahrung in eigens für sie hergestellten Schränken und Mappen. Die mit dem 19. Jahrhundert einhergehende Diskreditierung der Reproduktionsgraphik gipfelte vor allem in dem Vorwurf, daß sie die Freiheit, den Fortschritt und die Erneuerung der Gesellschaft unterlaufen würde. Aura des Authentischen, des Unikats versus industrielle Massenproduktion und ideologische Gleichmacherei. Gebündelt ist dies bei Walter Benjamin in seinem Buch "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" nachzulesen.
Norberto Gramaccini und Hans Jakob Meier, beide ausgewiesene Kenner der Materie, legen nun mit ihren Ausführungen zur ‚Kunst der Interpretation' einen Grundstein zur Neubewertung bzw. Rehabilitation der Kunstgattung vor. Ihre Wertschätzung gegenüber der ‚Französischen Reproduktionsgraphik' drückt sich bereits darin aus, daß die Autoren dem Bild weit mehr Raum zugestehen als dem Text. Aber dazu später mehr.
Gegliedert ist der gut 300 Seiten starke Band in drei Teile. In den einleitenden Essays, deren Autorschaft nicht explizit ausgewiesen ist, werden die Geschichte und die Grundlagen der Reproduktionskunst anschaulich aufbereitet. Ihnen schließt sich ein reich bebilderter Katalog an, gefolgt von einem Anhang, der neben Register und Bibliographie mit einer Quellenanthologie zur Druckgraphik im 17. und 18. Jahrhunderts aufwartet.
Bei der Lektüre des Buches erschließt sich unmittelbar, daß die im Untertitel vorgenommene Eingrenzung auf die französische Reproduktionsgraphik der Jahre 1648 bis 1792 - womit die Gründung und Auflösung der Pariser Kunstakademie markiert sind - als Höhepunkt und Abschluß einer langen, von italienischen und flämischen Meisterstechern stark beeinflußten Entwicklung gelesen werden muß. Dieser Entwicklungslinie werden Gramaccini und Meier gerecht, indem sie ein differenziertes Bild des historischen Wandlungen unterworfenen Begriffes ‚Reproduktion' vom 15. bis 18. Jahrhundert in Deutschland und Italien über die Niederlande bis Frankreich nachzeichnen. Dabei kommen sie zu dem Schluß, dass durch das bis ins 19. Jahrhundert vorherrschende eidetische Gedächtnis "zur Geschichte der Reproduktion fragmentarische Wiedergaben und freie Interpretationen, die das gemeinsame Vorbild kaum noch erkennen lassen, genauso wie um Genauigkeit bemühte Kopien" (S. 11) gehören.
Um Reproduktionen als soziales Produkt zu begreifen (Rezeptionsgeschichte wäre ein weiteres Stichwort), werden in den beiden nachfolgenden Kapiteln jeweils zwei Jahrhunderte in Augenschein genommen, wodurch Modifikationen - sozialer und technischer Art - sichtbar in den Vordergrund treten. Anhand von eingebundenen Fallbeispielen lassen sich im Folgenden die Interpretations- bzw. Übersetzungsschwierigkeiten konkreter benennen. Bekanntestes und viel zitiertes Beispiel aus dem 16. Jahrhundert dürfte dabei der Konflikt zwischen Baccio Bandinelli und Marcantonio Raimondi sein. Bei der Ausführung des Auftrages, die Zeichnung der Laurentiusmarter in einen Stich zu transformieren, seien, wie Vasari zu berichten weiß, "molti errori" entstanden. Grundlage der Streitigkeiten stellen Raimondis ‚eigenmächtige' Modifikationen dar, weil er seine vorrangige Aufgabe nicht in der Erstellung einer Kopie, sondern in einer Interpretation der Vorlage sah. "Am Ende zählte der Stich mehr als der Entwurf. (...) Der Maler lieferte die Inspiration in Form einer Skizze - deren Übersetzung war Aufgabe des Stechers" (S. 23).
Diese Art von Beispielen ließe sich mühelos fortsetzen. Wichtiger ist indes, daß in der Auseinandersetzung zwischen Einzigartigkeit (wie sie Dürer vehement einforderte) und Vervielfältigung, dem Stich und damit dem Stecher und seiner Interpretation zunehmend mehr Bedeutung und Beachtung zuteil wurden.
Konsequenterweise ist das den Katalog mit einbindende Kapitel über das 17. und 18. Jahrhundert dem Siegeszug der französischen Reproduktionsgraphik gewidmet. 1663 war es geschafft: Der Kupferstich wurde endgültig als akademische Disziplin an der Académie Royale de Peinture et Sculpture zugelassen und damit Malerei wie Bildhauerei gleichgestellt (S. 31). Von nun an im Dienste der Krone stehend, dem Ruhm der Monarchie dienend, entstand bereits wenige Jahre später (1677) ein mehrbändiges Tafelwerk (Tableaux du Cabinet du Roy), in dem die königliche Sammlung Ludwigs XIV. mit fokussiertem Blick auf die italienische Historienmalerei der Renaissance einem größeren Publikum zugänglich gemacht wurde. Die zu diesem Zeitpunkt noch greifenden ästhetischen Grundsätze der Akademie waren für den fünfzig Jahre später entstandenen ‚Recueil Crozat' nicht mehr bindend. Die Aufgabe wurde nun von unabhängigen Kennern und Sammlern übernommen. Ziel des Unterfangens war der Entwurf eines Überblickswerkes zur Geschichte der italienischen Renaissance und des Barock. Darüber hinaus ging es hier - und darin lag die "entscheidende Innovation - um den engen ästhetischen Zusammenschluß von Malerei und zeichnerischem Entwurf der führenden italienischen Meister" (S. 36).
Die von Gramaccini und Meier vorgenommene kontextbezogene Forschung wird dankenswerter Weise von zahlreichen Werkbeispielen unterbrochen - exemplarisch seien Gérard Audra Alexanderschlacht-Zyklus nach Charles Le Brun und Jean de Julliennes Receuil der Zeichnungen und Gemälde von Antoine Watteau genannt. Das Thema der dauerhaften ‚Auseinandersetzung' mit Künstler und Werk mittels Reproduktionsgraphik wird anhand der Salons seit 1737 aufgerollt. Flankiert werden diese Ausführungen von fundierter Quellenarbeit und der Rekonstruktion des zeitgenössischen Kunstdiskurses sowie der ästethischen Theorien (Reflexionen über Reduktionen), wodurch dem Leser ein substantieller Über- und Einblick geboten wird.
Der zweite und umfangreichste Teil des Buches ist der eigenen Anschauung gewidmet. Dabei besticht der opulent ausgestattete Katalog - dem Vorwort ist das ‚Ringen' um jedes Blatt zu entnehmen - nicht nur durch die qualitätvollen Abbildungen, sondern vor allem durch die gewählte Form der Gegenüberstellung.
Gerade der Vergleich von Original und Reproduktionsgraphik ermöglicht es, die feinen Nuancen von Reproduktion, Übersetzung und Interpretation deutlich werden zu lassen. Hervorgehoben sei Poussins Selbstbildnis vor Bilderrahmen - Jean Pense; Raffaels Transfiguration - Nicolas Dorigny und Chardins Tischgebet - Francois-Bernard Lépicié. Des weiteren bietet der Katalog eine repräsentative und chronologisch aufbereitete Auswahl von französischer Reproduktionsgraphik, die, untermauert von Biographien, Quellentexten und bibliographischen Hinweisen, noch einmal die gesamte Bandbreite der im Text besprochenen Aspekte in visueller Form aufblitzen läßt. Gramaccini und Meier haben somit ein Grundlagenwerk zur französischen Reproduktionsgraphik vorgelegt, das nicht zuletzt auch buchkünstlerisch Kenner wie kunstgeschichtlich Interessierte gleichermaßen anspricht.
Martina Dlugaiczyk
Norberto Gramaccini, Hans Jakob Meier: Die Kunst der Interpretation. Die französische Reproduktionsgraphik von 1648 bis 1792. Frankreich. 328 S., 221 z. T. fb. Abb., 32 cm, Ln., 2002. Deutscher Kunstverlag, München 2003. EUR 98,-
ISBN 3-422-06356-0
 
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