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Die Hedwigsbecher - Das Rätsel ihrer Herkunft

Als Hedwigsbecher wird seit 1877 eine kleine Gruppe konischer, facettierter Becher bezeichnet, die durch außergewöhnliche Wandstärke und einzigartigen Dekor in tiefem Relief mit Parallel- und Kreuzschraffuren hervorstechen. Dieser besteht entweder aus volutenreichen, oft floralen Ornamenten oder aus heraldisch anmutenden Tieren wie Adler, Greif und Löwe(n). Trotz intensiver Bemühungen ist die Herkunft dieser Becher noch immer unklar.

In der bisherigen Forschung sind, wenn überhaupt, zumeist Ägypten und zuweilen Byzanz als Herkunftsland angenommen worden, obwohl sich dort kein einziges auch nur ähnliches Stück nachweisen läßt. In Mitteleuropa dagegen, wo sich die weitaus meisten Hedwigsbecher nachweislich eine Zeitlang befunden haben, können sie wohl kaum entstanden sein. Wie die erst kürzlich veröffentlichten Untersuchungsergebnisse von Karl Hans Wedepohl (Die Gruppe der Hedwigsbecher, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, II. Mathematisch-Physikalische Klasse, Göttingen 2005, Nr. 1) gezeigt haben, dürfte das Rohglas als Soda-Asche-Glas aus einer Hafenstadt der östlichen Mittelmeerküste stammen. Wegen des im Mittelalter zu beobachtenden Handels mit nahöstlichem Rohglas besagt dies freilich nicht unbedingt, daß dort auch die Hedwigsbecher hergestellt wurden.

Die Verfasserin des hier zu besprechenden Buches zeichnet sich unter anderem durch ihr in langer praktischer Erfahrung gewonnenes technisches Wissen aus. Im Rahmen ihres Buches über antike Glastöpferei (Mainz am Rhein 1999, S. 138-145) hat sie bereits einen wichtigen Forschungsbeitrag zur Herstellung der Hedwigsbecher geleistet. Bisher wurde allgemein angenommen, daß man zunächst einen dickwandigen Rohling blies, der anschließend geschliffen und poliert wurde. Nach Lierkes Untersuchungen ist dagegen mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, daß in Fortsetzung der Tradition antiker Glastöpferei ein auf einer Scheibe rotierender Glasklumpen mittels eines Preßstempels in einer nur einmal verwendbaren Gipsform mit eingetieftem Muster gepreßt wurde. Neuerdings jedoch möchte Lierke (S. 35 und 47) die andere Möglichkeit nicht mehr ausschließen.

Nachdem sie in ihrer Arbeit von 1999 (S. 145) die wenig begründete Vermutung geäußert hatte, daß die Hedwigsbecher in einem Kloster des mittel- oder süddeutschen Raumes hergestellt worden seien, glaubt Lierke in ihrem neuen Buch, indem sie sich teilweise auf den Beitrag von Rudolf Distelberger über die Hedwigsbecher und die Steinschneidekunst (S. 83-94) stützt, daß die Hedwigsbecher während des 12. Jahrhunderts im normannisch beherrschten Sizilien entstanden - also in Europa, aber an der Grenze zum islamischen Orient und auch zum christlichen Byzanz. Sie sieht in ihnen „die Eleganz des fatimidisch inspirierten Dekors mit der strengen Schönheit der neuen facettierten höfischen Prunkgefäße aus Bergkristall“ (S. 78) vereint, und Distelberger hält es für möglich, daß „bei den Hedwigsgläsern die Becher-form selbst und die starke Wandung als westliches Gestaltungsprinzip anzusehen sind, während sich der Reliefdekor aus der sarazenischen Tradition im Steinschnitt erklärt." (S. 88). Lierke (S. 69 und 74) nimmt an, daß die Becher durch Kaiser Heinrich VI. im Jahre 1194 oder schon als Mitgift seiner Frau Konstanze 1185 von Sizilien nach Deutschland gelangten.

Das vorliegende Buch besticht sowohl durch das Layout als auch durch die große Zahl hervorragender Abbildungen, doch leider bleibt das Rätsel der Hedwigsbecher ungelöst, denn die von Lierke vorgebrachten Argumente vermögen nicht zu überzeugen:

1) Selbst wenn auf Sizilien während des 12. Jahrhunderts facettierte Gefäße hergestellt wurden, wie man mit Lierke und Distelberger vermuten könnte (S. 52-57 und 85-88), so bildete dieser Umstand doch nur eine Voraussetzung, aber kein Argument für die Annahme, daß die Hedwigsbecher sizilischen Ursprungs sind, denn dickwandige, facettierte Glasgefäße und auch konische Becherformen finden sich auf islamischer Seite schon vor dem 11. Jahrhundert im Iran und in Ägypten. Auch ergibt sich in der Capella Palatina aus der hinlänglich bekannten Darstellung eines bärtigen Herrschers, der in seiner rechten Hand einen Glasbecher ohne Facetten hält, daß die Facettierung wohl kaum als ein besonderes Merkmal kostbarer Glasbecher aus Sizilien gelten kann, zumal sich bisher keine facettierten Becher finden lassen, die von dort stammen.

2) Als starke Stütze für ihre Hypothese betrachtet Lierke (S. 54f. und dazu Distelberger, S. 88f.) einen Löwenkopf aus Bergkristall (Abb. 29), der sich im Badischen Landesmuseum Karlsruhe befindet. Zwar mag der Löwenkopf sizilischen statt ägyptischen bzw. fatimidischen Ursprungs sein, aber seine Ähnlichkeit mit den Löwendarstellungen auf den Hedwigsbechern beschränkt sich auf die Schraffierung der Mähne. Abgesehen davon, daß diese im Falle des Karlsruher Löwenkopfes erheblich feiner ist, fällt beim Vergleich auf, daß die Schraffierung der dadurch besonders herausgearbeiteten Nase nicht den Löwen der Hedwigsbecher entspricht, deren Nasen nicht eigens betont, sondern kaum zu erkennen sind (Abb. 4 und 31). Auch der Mähnenansatz ist gänzlich anders. Wenn also der Karlsruher Löwenkopf aus Sizilien stammt, so spricht er nicht dafür, sondern eher dagegen, daß dort auch die Hedwigsbecher hergestellt wurden.

3) Ein weiteres Argument zu ihren Gunsten möchte Lierke (S.57-59) aus jenen schildartigen Dreiecken ableiten, die sich auf mehreren Hedwigsbechern stets in Verbindung mit einem Löwen (in dem Freiraum zwischen Rücken und hochgestelltem Schweif) finden (Abb. 31). Die meisten dieser Dreiecke weisen in der Mitte ein weiteres Dreieck auf, mit dem Lierke unter Hinweis darauf, daß Sizilien auf christlichen Weltkarten des Mittelalters als Dreieck dargestellt wird, eben diese Insel gemeint glaubt. Gegen die zunächst verblüffende Erklärung sprechen jedoch zwei Gründe: a) Auf zwei anderen Hedwigsbechern (Halberstadt und Namur ornamental) finden sich Ellipsen, die ein auf der Spitze stehendes Quadrat umschließen (vgl. Tafel 1). Infolgedessen ist es im Falle der schildartigen Dreiecke wohl nicht mehr als das Dreieck im Dreieck, das den Künstler als geometrische Figur von vielleicht magischer Bedeutung gereizt hat. b) Die von Lierke versuchte Erklärung scheitert auch am Dekor des in Amsterdam befindlichen Hedwigsbechers, der zwei schildartige Dreiecke zeigt, die jeweils ein größeres oberes und ein kleineres unteres Dreieck umschließen, wobei das größere Dreieck durch ein inneres Dreieck viergeteilt ist (Abb. 36). Lierke (S. 66) glaubt mit den Dreiecken die vier Teile des normannischen Königreiches gemeint, deren Namen Roger II. in seiner Titulatur trug: Italien, Langobardien, Kalabrien und Sizilien. Welchen Sinn hätte dann aber das untere Dreieck? Es wäre bei einer solchen Interpretation überflüssig. Sollte es jedoch für Sizilien stehen, so dürfte das größere obere Dreieck nicht viergeteilt, sondern müßte dreigeteilt sein. Indem die von Lierke versuchte Deutung der Dreiecke nicht eben plausibel erscheint, entfällt auch ihr Argument, im Falle der Löwen handele es sich um die Wappentiere des normannischen Herrschergeschlechts der Hauteville (S. 51 und 59).

4) Erwähnenswert ist außerdem, daß sich bezüglich der Ikonographie in Sizilien zwar das Motiv des Lebensbaumes nachweisen läßt (Abb. 26), die Art der Stilisierung auf den Hedwigsbechern (Abb. 8) jedoch bisher - wie anderswo allerdings auch - ohne Parallele bleibt.

In der Frage der Herkunft der Hedwigsbecher bleiben mehrere Möglichkeiten offen. Beim derzeitigen Kenntnisstand am wahrscheinlichsten ist wohl die schon früher angenommene Herstellung im Fatimidenreich, d. h. in Ägypten oder den Küstenstädten Palästinas, woher mit großer Wahrscheinlichkeit auch das Rohglas stammt. Allerdings unterscheidet sich der auffallend kantige, archaisch wirkende Dekor deutlich von der weicheren Linienführung auf fatimidischen Bergkristallarbeiten. Deshalb stellt sich die Frage, ob (bzw. wie lange) die Hedwigsbecher schon vor dem 12. Jahrhundert entstanden sein könnten.

Es ist auch möglich, daß die Hedwigsbecher in den Ende des 11. Jahrhunderts gegründeten Kreuzfahrerstaaten gefertigt wurden, wie Wedepohl (siehe oben) annimmt, doch ist zu bedenken, daß die Kreuzfahrer die in der Glasherstellung bedeutende Hafenstadt Tyrus erst 1124 und Askalon sogar erst 1153 von den Fatimiden eroberten. Außerdem ist im Zusammenhang mit dieser Frage zu beachten, daß aus den Kreuzfahrerstaaten – aus dem normannischen Sizilien übrigens ebenso – viele muslimische Emigranten nach Ägypten kamen.

Unklar bleibt nicht zuletzt, wann und unter welchen Umständen die Hedwigsbecher nach Mitteleuropa gelangten. Da sich die weitaus meisten - und zunächst vielleicht alle - eine Zeitlang im römisch-deutschen Reich befunden haben, kein einziger jedoch in Frankreich oder England, und außerdem in allen als möglich betrachteten Herkunftsgebieten ein Gegenstück fehlt, ist anzunehmen, daß sie nicht etwa Stück für Stück (zum Beispiel durch Kreuzfahrer und Jerusalempilger), sondern alle zusammen, also gleichzeitig nach Mitteleuropa gebracht wurden. Als Erklärung bietet sich die Möglichkeit an, daß sie Bestandteile eines Geschenkes waren. Unter dieser Voraussetzung käme vor allem die Gesandtschaft Saladins an Friedrich Barbarossa von 1173 in Betracht, denn die Becher könnten sich zunächst in der berühmten Schatzkammer der fatimidischen Kalifen in Kairo befunden haben und mit deren Sturz 1171 in Saladins Hände gefallen sein – große Teile der fatimidischen Schätze schickte Saladin bekanntlich an Nuraddin, der dafür allerdings wenig Sinn hatte und seine finanziellen Forderungen damit nur unzureichend erfüllt sah. Ich habe diese Möglichkeit bereits an anderer Stelle zur Diskussion gestellt, vgl. Saladin und die Kreuzfahrer, hrsg. von A. Wieczorek, M. Fansa und H. Meller, Mainz, S. 441f. (Katalog der Ausstellung in Halle, Oldenburg und Mannheim).

Hannes Möhring
Lierke, Rosemarie: Die Hedwigsbecher. Das normanisch-staufische Erbe. Nachw. v. Distelberger, Rudolf. 2005. 112 S., 42 Abb. 17 x 24 cm. F. P. Rutzen, Ruhpolding, 2005. Pb EUR 28,00
ISBN 3-938646-04-7
 
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