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Sven Marquardt - Zukünftig vergangen

Die analoge Boheme und ihr zwischenweltlicher Magier.

Recherchen über vergangene Gruppen und Cliquengefüge bringen es mit sich, dass längst auseinandergedriftete Lebenswege sich plötzlich wieder kreuzen. So geschehen bei einer Ausstellung, die vor genau einem Jahr im Berliner Kunstgewerbe-Museum eröffnete; „IN GRENZEN FREI“ Mode, Fotografie, Underground in der DDR 1979-89. Zur Vernissage dieser Ausstellung kamen skurrile, schöne und mitunter etwas vom Leben erschöpfte Protagonisten der ehemaligen Modeszene der DDR zusammen, aber auch Verleger, Galeristen, Filmemacher. Vorausgegangen war der Schau die Premiere eines Films. Marco Wilms, selbst Model und Mitglied der Underground-Mode-Gruppe ‚ccd‘ (chic, charmant und dauerhaft), suchte Freunde von damals auf und ließ die alten Zeiten Revue passieren. Weggefährten, Modedesigner, Künstler und Models, waren zum Beispiel Sabine von Oettingen, Robert Paris und Sven Marquardt, dessen Fotografien auch im Film mehrfach gezeigt werden. Im dokumentarischen Film, „Ein Traum in Erdbeerfolie“, 2009, der schnorrig privat und etwas eitel daherkommt und den Zuschauer sofort vollkommen für oder gegen sich einnimmt, fehlt eine Person. Obwohl seine Fotos sogar die Filmplakate schmückten, ist Sven Marquardt seltsam abwesend. Beim großen Zusammentreffen der Ex-DDR-Modekünstler im Berliner Kunstgewerbe-Museum waren seine Arbeiten auffallend anwesend. Wohltuend, schillernd. Auch in der zeitgleich ab Juli 2009 gezeigten Werkschau „Übergangsgesellschaft –Porträts und Szenen 1980 – 1990“ in der Berliner Akademie der Künste waren Arbeiten Marquardts vertreten und der Meister selbst ließ seine multiplen Gesichtsringe und Tattoos bewundern.
Was folgte, ist eine kleine Erfolgsgeschichte. Auf den 1962 in Berlin (Ost) geborenen Sven Marquardt kamen plötzlich Galeristen und Verleger zu, die seine Fotos zeigen und verlegen wollten. Der als Türsteher des Berliner Clubs „Berghain“ wirkende Marquardt hatte erst seit wenigen Jahren zur Fotografie zurückgefunden. Sein erster Bildband ist nun beim Mitteldeutschen Verlag erschienen, und der Verleger Roman Pliske erzählt bei der Buchvorstellung in der Kantine des Berghain, wie sehr ihm die Zusammenarbeit mit der „freundlichen Diva“ Marquardt gefallen habe, leider sei das Buch nun fertig. Es wurde freundlich gelacht und Marquardt selbst mochte nicht viel sagen, er sei bewegt. Seine Bilder sprechen hingegen eine deutliche Sprache, überraschenderweise weisen die Fotografien im Band „zukünftig vergangen“, zwischen 1984 bis 2009 keine Brüche auf. Eine Lücke ist nur zeitlich zu verzeichnen, in den neunziger Jahren hatte Marquardt seine „Kamera einige Zeit lang weggelegt. Dieses plötzliche mediale Überangebot, diese Flut an Bildern, an Neuem war einfach zu viel.“ Erzählt Marquardt einem Kollegen für ein Interview bei „Weltexpress.de“, dem ebenfalls türstehenden Künstler Andre‘ Bergelt. Nach einer Ausbildung zum Fotografen und Kameraassistenten hatte Sven Marquardt bereits in den achtziger Jahren fotografiert, bestärkt durch Helga Paris, Mutter seines Freundes und Modells Robert und Mentorin für seine Aufnahme in den Verband Bildender Künstler – der zu DDR-Zeiten auch Schutz und Hort für die, dem Sicherheitsapparat auffällig gewordenen, Kreativen war.
Das Morbide und der Hang zu Inszenierungen seiner schwarz/weiß Porträts mag anfangs vom Gefühl des Eingesperrtseins geprägt worden sein, das Verlorene und die in sich Gekehrtheit der letzten Jugend- Generation der DDR spiegelt sich in den traurigen Gesichtern, den trotzig präsentierten Körpern. Doch halt, die Bilder, die Marquardt fünfzehn Jahre später inszeniert, haben ganz ähnliche Augen-Blicke. Stolz, listig, fragend, provozierend, mitunter auch müde schauen die Porträtierten in die Kamera, auf uns. Ihre Körper sind gezeichnet von abenteuerlichen Tattoos, Piercings und exzessivem Fitnessbesuch, durchtanzten Nächten. Leder, Messer, Jesus, Schweiß, Stein, Sarg und Kerze – so könnte man die Accessoires zusammenfassen. Ohne Kunstlicht inszeniert und dokumentiert Marquardt bewusst das Intime, Private von Menschen, die ihm nahestehen oder ihn faszinieren. Menschen aus der Nachtwelt, die ihrem Magier entgegentreten, ihre gezeichnete Oberfläche ins Licht rücken, oder verhüllen. In Plastik, unter Federn oder Tattoos, mit Gesten, Mützen, Augenklappen und Netzen. Ein Bild von 2007 zeigt einen im Bildband mehrfach porträtierten Mann mit langen Haaren vor einer Wand, Licht fällt von oben auf den Scheitel und gleitet auf das Gesicht. Die Augen sind halb geöffnet, die Augäpfel verdreht, das Weiße nach außen gekehrt. Ein erschreckendes und zugleich lustiges Bild, denn hier spielen Fotograf und Modell mit der christlichen Ikonografie der letzten zweitausend Jahre. Das wahre Gesicht, das sich nach heutigen Kreuztragungen abnehmen lässt, zeigt weniger Blut, dafür mehr Kitzel der Selbstgeißelung. Übrigens ist dem delirierenden Jesus eine verwischte Aufnahme eines hysterisch kläffenden Hundes gegenübergestellt. Eine Ausstülpung der inneren Verfasstheit? Eine Zustandsbeschreibung von naivem Rabaukentum am zwielichtigen Rand der Gesellschaft? Das meinte Marquardt wohl, als er Andre‘ Bergelt auf die Frage, welcher gesellschaftlichen Gruppierung er sich zugehörig fühle, antwortet: „In einer Zeitschrift las ich neulich etwas über die so genannte ‚Analoge Bohème‘ des Prenzlauer Berg. Keine Ahnung, ob dieser Begriff den Sachverhalt trifft. Zu Ostzeiten zählte man ja schon zur Bohème, wenn man sich die Frage beantworten konnte, warum man morgens länger schlafen kann. Die Szene damals war allerdings deutlich übersichtlicher. Eine kleine Welt in der man beim Milchholen aufpassen musste, nicht in eine Bullenkontrolle zu tappen und sich dennoch seltsam frei fühlte.“
Das wilde Leben der Luststeigerung und ihr Abbild in schwarz/weiß, inklusive Hund, Ketten und der Frau Mama – das ist sympathisch wie begrenzt, hier besteht Kult-Verdacht! Der Mann, der sich als Magier gibt, weist dennoch nicht über sich hinaus und grinst zur Verzückung, die den Kunstmarkt plötzlich befällt. Jahrelang unbeachtet, blieb er sich treu und betrat die neue Zeit durch die Hintertür der Clubs, das fand er „tausendmal spannender, als in Folge irgendeiner Arbeits-Beschaffungsmaßnahme in einem staubigen Fotolabor zu stehen.“ Wir finden das auch spannender und danken Marquardt für seinen Blick, seinen Humor und ihn selbst, wie er war und wird – zukünftig vergangen. Treffend ist das Zitat aus Twin Peaks gewählt, das dem Katalog vorangestellt wurde: „Durch die Finsternis des zukünftig Vergangenen sehnt der Magier sich nach Licht, nach einem Weg heraus zwischen zweierlei Welten.“

13.07.2010
Anne Hahn
Sven Marquardt. Zukünftig vergangen. 120 S. zahlr. sw. Fotografien. 27 x 22 cm. Gb. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2010, EUR 22,00
ISBN 978-3-89812-723-3
 
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