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Bilder aus Versehen

Dieses Buch lohnt sich zu lesen! Nicht – oder: nicht nur –, weil es ein hochinteressantes Thema zu seinem Gegenstand hat: die Tücken des Apparates, die Eigendynamik der Technik am Beispiel der (analogen) Fotografie. Sondern vor allem, weil es die menschliche Reaktion auf diese Tücken und Eigendynamiken offenbart. Peter Geimer hat einen wichtigen Beitrag zur Bildästhetik im Allgemeinen und zur Fotografie im Besonderen mit einer Studie über die Grenzen menschlicher Wahrnehmung verschmolzen. Und er schlägt daraus die Funken einer großen philosophisch-kunsthistorischen Erzählung.
Sechs große Kapitel gliedern das Buch. Die ersten beiden fragen nach der Ausgangslage, der Geschichte der Fotografie vor ihrem „eigentlichen“ Beginn. Experimente mit empfindlichem Material waren lange verbreitet, die Phänomene der Silberschwärzung bekannt, auch Bilder wurden auf diesem Weg bereits im 18. Jahrhundert erzeugt. Nur die Möglichkeit, sie dauerhaft zu fixieren gab es nicht: sie verschwanden, nach kurzem Aufscheinen, unter einer schwarzen Oxydschicht. Zudem erfolgte der „Akt“ der Aufnahme nicht „absichtsvoll“ im künstlerischen oder wissenschaftlichen Sinne. Es entstanden „Bilder aus Versehen“. Und diese wurden, obwohl zur Geschichte der Fotografie gehörig, von der Geschichtsschreibung der Fotografie ausgeblendet. Geimer zeigt eindringlich, wie durchlässig die Ränder historischer Entwicklungen, wie willkürlich Grenzziehungen sind: Alle Wissenschaft ist Konstrukt. Allein wir vergessen es immer wieder.
Erst Nicéphore Nièpce; so die gängige Definition, fixierte absichtsvoll aufgenommene Bilder dauerhaft, „begründete“ damit die Fotografie im eigentlichen Sinn und überlieferte seine Produkte der Nachwelt. Allerdings hatte er dabei mit alten Problemen zu kämpfen. Scheinbar willkürliche Fokussierungen, schwarze Punkte, weiße Flecke, visuelle Fata Morganas erschienen auf den Abzügen. Um diese (aus der „Vorgeschichte“ der Fotografie bekannten) unkalkulierten Effekte, die sich mit dem Kalkül überlagern, geht es Geimer in den vier folgenden Kapiteln, zwei davon beispielorientiert, zwei weitere analytisch.
Das Turiner „Grabtuch Christi“ etwa – ein „aus Versehen“ entstandener Abdruck des Leichnams auf einem Stück Stoff – zeigt die Schemen, die das Auge des pilgernden Betrachters als „Gottessohn“ liest. Die Reliquie wurde 1898 erstmals fotografiert, aus wissenschaftlichen und konservatorischen Gründen. Auf der belichteten Fotografie kehrte sich der Negativabdruck (des Körpers) ins Positiv um. Was passierte, war frappierend. Jetzt erst war das Wunder richtig sichtbar: die Schemen festigten sich zu Umrissen, der Körper des Heilands bekam Konturen.

Doch das „Wunder“ beruhte auf einem Irrtum, einem Wahrnehmungsfehler, ausgelöst durch die Eigenlogik der Apparatur, das empfindliche Material und seine Reaktion auf die überstarke Ausleuchtung des Ortes. Die Rahmenbedingungen der Aufnahme selbst – und nicht das „Grabtuch“ selbst – hatten das optische Resultat auf dem Bild erzeugt. Es war gleichsam das Grundrauschen der Fotografie, dass sich hier manifestierte, eine Illusion, produziert durch den Apparat. Das allerdings mussten die Akteure erst mühevoll begreifen lernen.
Mit der Nacherzählung dieser Desillusionierung weitet sich der Blick vom Kunsthistorischen aufs Menschliche. Die Geschichte der Fotografie erscheint als Ringen um Wahrhaftigkeit, um die Frage, ob die Technik dem Auge überlegen, „objektiv“, ja unfehlbar sei – oder gefangen in Eigengesetzlichkeiten, deren Ergebnisse „Abbilder“ ohne „Urbilder“ sind. Selten findet man komplexe Sachverhalte so anschaulich und spannend vermittelt wie in diesem Buch. Und selten findet man die Positionen der Forschung derart ausgewogen, undogmatisch und souverän gegeneinandergestellt, dass sogar deren Widersprüchlichkeit zu neuen Einsichten führt. Der Wille zur Erkenntnis, die Tücke des Objekts, die Hoffnung des Menschen und die Relativität der Wissenschaft: das sind die Protagonisten in Peter Geimers eindrucksvoller Studie. Sie gibt Antworten, und besser noch: wirft Fragen auf – weit über ihren Gegenstand hinaus.

17.02.2011

Christian Welzbacher
Peter Geimer: Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen. Fundus-Reihe Band 178.450 S., zahlr. Abb. 16 x 10 cm, Gb. Philo Fine Arts, Hamburg 2010. EUR 26,00 CHF 39,50
ISBN 978-3-86572-654-4
 
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