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Vom Reiz der Peripherie

"Wo endet die Stadt und wo beginnt die Peripherie?". Diese in zahllosen Urbanistikstudien immer wieder untersuchte Frage wurde und wird von einer ebenfalls zahllosen Menge von Fotografinnen geprägt, die versuchen sich diesem merkwürdig unbestimmten sozialen Raum irgendwo im Dazwischen zu nähern und diesen auf eine ähnlich unbestimmte Weise festzuhalten.

Wo endet das Fotografierbare und wo beginnt das Urbane? Andrea Gnam, eine ausgewiesene Fotoexpertin und seit 2012 Begründerin des ersten deutschen Blogs zur Fotografie, hat nicht etwa - wie der der Untertitel ihres Buches zunächst vermuten ließe - eine theoretisch abgesicherte Geschichte der Architekturfotografie geschrieben. Ihre zehn, lose miteinander verbundenen Essays behandeln die unterschiedlichsten Projekte, Buchprojekte zur Architektur und (urbanem) Raum, indem sie sie mit ihrem subjektiven Blick reflektiert: "Nachstellen, Aussortieren und Überraschtwerden..." So beschreibt die Autorin präzise und knapp ihre Herangehensweise, die sich offenbar Jahrzehnten einer engagierten Auseinandersetzung mit dem Medium verdankt. In zehn Kapiteln beschreibt sie in einer freien, essayistisch offenen Weise die sozialen Gebrauchsweisen des Mediums Fotografie, die sich mit urbanistischen, sozialen, ästhetischen Dimensionen von Stadt- und Architekturbezogenen Bildern und höchstens noch am Rande auch mit den alten Fragen der Abgrenzbarkeit zwischen künstlerischer und dokumentarischer Fotografie beschäftigt. Auffällig ist dabei, dass Andrea Gnam die Vielzahl von Positionen dieser ortsgebundenen Sozialgeschichte des Visuellen teilweise detailliert schildert, teilweise auch eher zusammenfassend referiert. Dass sich die Autorin speziell für osteuropäische Fotoprojekte und der Autorinnen interessiert, sei hier nur am Rande vermerkt.

Gnams Einsicht, dass beispielsweise für die Generation von Hilla Becher und anderen um 1940 geboren Fotografinnen gelte, dass diese weniger Pathos interessiert waren als dass sie eine souveräne, großzügige Haltung einnehmen, gilt dabei auch für die sensible Form der Annäherung der Autorin an die von ihr dargestellten Probleme und sozialen Kontexte. Auffällig ist dabei, dass in diesem Band nur insgesamt nur 10 Abbildungen gedruckt sind, die als bewusst herausgehobene Intros beispielhaft in einen jeweils eigenen Themenkomplex einführen.

Gegen Ende des Bandes - etwa ab dem Kapitel 7 "Dimensionen des Imaginären" - wird das Interesse der Autorin an allgemeineren fotospezifischen Fragestellungen deutlich. Die Mitlesenden werden auf diese Weise als explizit Fotografiekundige angesprochen. Die spannende Frage etwa sich Muster und Ornamente in fotografische Oberflächen konkretisieren und dabei Wissen und Affekte weist über die eigentliche Thematik des Urbanen hinaus. Die Erkenntnis beispielsweise, dass wir als Betrachtende gegenüber Fotografien es immer mit Bildern zu tun haben, das im Vorübergehen etwas in den Blick genommen wird, "dass schon im Vergehen war", erfährt gerade bei der hier vorgestellten Thematik eine fast überzeitliche Aktualität. Fotografien können "als Bilder durch das Imaginäre, Traumverlorene und Unverstandene" gedient haben und weiter dienen. Ein Fotograf, so zitiert Gnam Wim Wenders, sei ein Zeit-Historiker, der dem Fotografierten immer auch eine bestimmte ethische Position einnehme. Dass zunächst dokumentarische Bilder von Wirklichkeiten immer auch existenzielle, scheinbar zeitenthobene Dimensionen des Fotografischen reflektieren, wird in den letzten Kapiteln des Bandes verhandelt. Fotografie, das macht diese Untersuchung überdeutlich, ist ein autobiographisch getriggertes Medium, das uns unter anderem überraschende Perspektiven ermöglicht: uns auf eine "fast anachronistische Weise mit unseren eigenen frühen Seherfahrungen" auseinanderzusetzen. Aufgrund seiner großen Fülle von vorgestellten FotografInnen aber auch von spezifischen fotografischen Gebrauchsweisen, die häufig zwischen Soziologie, urbaner Existenz und Ästhetik und Anthropologie changieren liest sich dieser 134 seitige Band mit Gewinn. Speziell das letzte Kapitel, indem Blinde als Existenzen der Gegenwart vorgestellt werden, markiert das Anliegen der Autorin etwas mehr Licht in die geheimnisvolle Welt des (Architektur-)Fotografischen zu bringen. "Fotografien alleine können nichts erklären" - hat John Berger einmal (1978) auf seine lakonische Art formuliert. Dass dieser so selbstverständlich klingende Satz zutrifft, bestätigt dieser Band aufs Schönste. Wenn man sich den in ihnen enthaltenen Details zuwendet, dann erzählen sie bei genügend geduldiger Betrachtung mehr als man vermutet hätte.

03.10.2022
Michael Kröger
Vom Reiz der Peripherie. Architektur und Fotografie. Gnam, Andrea. Deutsch. 2022. 134 S. Abb. 22 x 16,5 cm. Wasmuth & Zohlen Verlag, Berlin 2022. EUR 24,80.
ISBN 978-3-8030-3420-5
 
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