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Architekturtheorie â Die SĂ€ule und der Trennungsschmerz |
Jörg Gleiters Buch âTraditionelle Theorieâ löst das Versprechen seines Autors, voraussetzungslos lesbar zu sein, ohne EinschrĂ€nkungen ein. Damit empfiehlt es sich als einfĂŒhrende âSchule des Denkens der Architekturâ. Es ist der erste eines auf drei BĂ€nde angelegten Werks, das die Architekturtheorie als eine spezifisch moderne Form des Nachdenkens ĂŒber Architektur darlegen will. Leitthema des dritten Bandes werden, so Gleiter, die âsich verĂ€ndernden Wissensstrukturen im digitalen Zeitalterâ sein, das des zweiten âder immanente Widerspruch der modernen Architektur im kulturellen KrĂ€ftefeldâ und das des vorliegenden ersten Bandes das âSchwierigwerden der Traditionâ im Maschinenzeitalter. Der Titel besagt also nicht, dass im besagten Zeitraum auf traditionelle Weise theoretisiert wurde â womit dann auch nur âaltmodischâ gemeint sein könnte -, sondern dass das Denken dieser Zeit KontinuitĂ€ten und DiskontinuitĂ€ten der Tradition zum Thema hatte.
Seine Erörterungen fĂ€delt der Autor Kapitel fĂŒr Kapitel anhand einiger weniger SchlĂŒsseltexte von neun Architekten ein, von denen einzelne Bauwerke frĂŒh als wegweisend erkannt worden waren. Deswegen, so folgert Gleiter, hĂ€tten auch deren Texte fĂŒr die in bewegten Zeiten Orientierung suchenden Zeitgenossen als weithin sichtbare âPfĂ€hle im weiten Feld der Theorieâ gewirkt. Um die weitverzweigte Wirkungsgeschichte der Texte kĂŒmmert sich Gleiter wohlweislich jedoch kaum, sondern unterzieht stattdessen die PrimĂ€rtexte einer genauen LektĂŒre. Dabei gelingen ihm ein ums andere Mal klarsichtige Korrekturen gĂ€ngiger Lesarten. Sei es, dass Schlagworte wie Ornament und Verbrechen, less is more oder form follows function differenziert betrachtet, jahrzehntelange MissverstĂ€ndnisse ĂŒber die Wohnmaschine oder die bauhĂ€uslerische Verwissenschaftlichung der Architektur ausgerĂ€umt oder Thesen wie etwa die angebliche Inspiration der Moderne durch das japanische Haus der Edozeit widerlegt werden. Die unaufgeregten Klarstellungen sind ĂŒberaus verdienstvoll, denn die PrimĂ€rtexte sind oft reichlich verworren - schlieĂlich stammen sie von praktizierenden Architekten, nicht von geschulten Theoretikern - und boten sich fĂŒr den polemisch verkĂŒrzten Gebrauch geradezu an.
Gleiters o. g. BegrĂŒndung seines Textkorpus ist wirkungsgeschichtlicher, nicht qualitativer Natur. Damit ist auch der Weg vorgezeichnet, eher Akzente zurechtrĂŒcken zu wollen als neue zu setzen. Der Gefahr, letztlich aber nur eine (methodisch angestaubte) Galerie der groĂen Gedanken groĂer MĂ€nner zu prĂ€sentieren, entgeht Gleiter auf zweierlei Weise. Zum einen, indem das Buch im Kern eine episodenreiche Gedankengeschichte vor allem einer Krise ist, nĂ€mlich der Krise der antikisch-klassischen Architektursprache. Als deren Zentralanliegen wird die Veranschaulichung von Tragen und Lasten postuliert, die sich wiederum vor allem in Gestalt und Zeichensprache der verschiedenen SĂ€ulenordnungen niederschlĂ€gt. Immer wieder kommt Gleiter â der Student von James Stirling und Praktikant bei Joseph Paul Kleihues gewesen war - auf die klassische SĂ€ule zu sprechen, und interpretiert von ihr ausgehend die corbusierschen Pilotis und die mies`sche EckstĂŒtzen, Gropiusâ Fagus Werke und Tschernikows Columbus Monument als Symptome der âSchmerzen der Modernisierungâ, also des Trennungsschmerzes von der dieser Architektengeneration im Studium vermittelten Klassik.
Zum Anderen ist es die SouverĂ€nitĂ€t, mit der Gleiter die Gedanken im weiteren âkulturellen KrĂ€ftefeldâ verortet. Ein besonderer Lesegenuss ist das Kapitel ĂŒber Adolf Loos, in dem der Autor u. a. herausarbeitet, dass Loos die fĂŒr den Gebrauchsgegenstand (nicht fĂŒr die Architektur!) geforderte Abschaffung des Ornaments mit der im Geschichtsverlauf zunehmenden Intellektualisierung der Wahrnehmung begrĂŒndet. Im zwanzigsten Jahrhundert vertrage das sich stĂ€ndig verfeinernde Sensorium des Menschen keine standardisierten Ornamente mehr, so Loos. Im Gegenzug weist Gleiter â hier nun vitruvianische Gedanken neu formulierend â nach, dass es ebendiese Intellektualisierung der Wahrnehmung war, die den Griechen den Einsatz von Ornamenten hatte sinnvoll erscheinen lassen, denn nur durch das Anzeigen des verborgenen DachgebĂ€lks mittels Triglyphen und Metopen blieb die Logik des Tempels als Ganzem lesbar.
Dieses Buch ist selbst beredter Ausdruck einer spezifischen Form der Intellektualisierung der Wahrnehmung. Denn es gliedert den ZustĂ€ndigkeitsbereich einer an der Sache orientierten Architekturtheorie in das Konzipiertwerden, Gemachtwerden und Wirksamwerden der Architektur, gewichtet aber unter dem Wirksamwerden das intellektuelle Entziffern der semantischen Botschaften deutlich höher als etwa die von Raum und Dingen gesendeten Handlungsimpulse oder als das leibliche SpĂŒren von AtmosphĂ€ren.
Gleiters Buch behandelt den Körper der Architektur. Dessen dialektischer Widerpart, der Raum, bleibt weitgehend unbeachtet. In der Einleitung begrĂŒndet dies der Autor damit, dass er verwundert festgestellt habe, dass die Thematisierung des Raums unter den schreibenden Architekten anders als unter den Kunsthistorikern jener Zeit praktisch keine Rolle gespielt habe. Diesen Befund kann der Rezensent nicht bestĂ€tigen. Denn fast zeitgleich mit Gottfried Semper, dem Gleiter das erste Kapitel seines Buches widmet, hatte Richard Lucae (als Architekt des Frankfurter Opernhauses und des HauptgebĂ€udes der TU Berlin dĂŒrfte er dem Gleiterschen Erfolgskriterium entsprechen) mit âĂber die Macht des Raumes in der Baukunstâ (1869) bis heute fruchtbar nachwirkende Erörterungen zum architektonischen Raum formuliert. Und in Le Corbusiers Vers une Architecture figuriert die Akropolis keineswegs nur als ein Monument der PrĂ€zision, sondern auch als eines der Raumbildung (âDas AuĂen ist immer auch ein Innenâ, so eine KapitelĂŒberschrift Le Corbusiers). Weitere einschlĂ€gige Gedanken zum Raum in den Schriften der Baumeister Fritz Schumacher, Erwin Gutkind, Hans Scharoun, Josef FrankâŠ
Dass sich Korpus und Fokus des Buches eher aus dem persönlichen Erkenntnisinteresse des Autors begrĂŒnden als aus der Suche nach der Vielgerichtetheit geschichtlicher Entwicklungen oder gar der Ontologie der Architektur, regt die Lust zum Weiterdenken an, und dies entspricht ganz der Absicht des Autors, denn âTheorie ist vom Prinzip her offen, sie zielt nicht auf Abschluss (âŠ). Sie ist eine Weise der Reflexion der Dinge, deren Ziel die Praxis ist, fĂŒr die sie leitend ist und in die sie verĂ€ndernd eingreiftâ. Die beiden kommenden BĂ€nde dĂŒrften noch direkter den verĂ€ndernden Eingriff in die Praxis provozieren wollen.
04.11.2019 |
Holger Kleine |
Traditionelle Theorie. 1863 bis 1938. Architekturtheorie. Grundlagen I. Gleiter, Jörg H. 232 S. 70 Abb. Br.
DOM publishers, Berlin 2018. EUR 28,00. |
ISBN 978-3-86922-592-0
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