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Architektur auf gemeinsamem Boden |
„Bodenfrage“? „Liegenschaftspolitik“? Gott, klingt das langweilig, dachte ich bis vor Kurzem. Jetzt aber weiß ich: werch ein Illtum! Wir haben es hier mit einer absolut zentralen Frage zu tun, die Einfluß auf alle elementaren Bereiche unseres Daseins hat. Wem gehört die Stadt? Wo wird gebaut und was? Wer kann darüber entscheiden? Wie hoch sind die Mieten? Kurzum: An der Bodenfrage hängt das Schicksal von Stadt. Mehr noch: das Schicksal der Gesellschaft als Ganzes. Und so ist es eine glückliche Fügung, dass es derzeit gleich mehrere neue Publikationen zum Thema gibt, darunter das hier vorgestellte Buch „Architektur auf gemeinsamem Boden“.
Das schockierende zuerst: In Deutschland steht die grundsätzliche Neuregelung des Bodenrechts seit 1967 aus! Damals gab es einen Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, der „die fehlende Balance von Eigentumsgarantie und Gemeinwohlverpflichtung“ (zitiert nach Stefan Rettich und Sabine Tastel, Hrsg.: Die Bodenfrage, S. 134) rügte und den Gesetzgeber aufforderte, tätig zu werden. Bis heute sind alle Versuche einer Bodenrechtsreform kläglich gescheitert (wer rät, welche Partei sich hier besonders sozial unverträglich hervorgetan hat, bekommt eine aserbaidschanische FFP2-Maske, solange der längst aufgebrauchte Vorrat reicht).
Wie jede andere produzierte Ware ist also auch der Boden weiterhin auf der Logik des „Marktes“ unterworfen, obwohl er nicht beliebig vermehrbar ist. Er wird, im Gegenteil, täglich weniger, denn Umwidmung und Versiegelung von Landflächen nehmen weltweit ungebremst ihren Lauf; ein vielfach gefordertes Flächenverbrauchsmoratorium läßt sich auch die Deutschlands nicht durchsetzen. Angebot und Nachfrage einer knappen, grundsätzlich limitierten Ressource treiben die Bodenpreise in schwindelnde Höhen - und hebeln entsprechend die Mieten, die wir alle zahlen. Vor allem tummeln sich auf diesem Marktsegment institutionelle Anleger: große Kapitalgesellschaften und Immobilienfonds (soeben hat das SPD-geführte Finanzministerien durch das Fondsstandortgesetz FOG weitere Regulation abgebaut!), Familienstiftungen, wie die der Familie Albrecht (Aldi), die systematisch Ackerfläche im Osten Deutschlands aufkauften, oder staatlicher Rentenfonds, deren Beteiligung hier besonders paradox erscheint: die Rentengelder der Arbeitnehmer werden in Boden- und Immobilienwerte angelegt, das treibt die Preise und sorgt dafür, dass sich die Rentner ihre Miete nicht mehr leisten können.
Aber darum geht es in „Architektur auf gemeinsamem Boden“ nicht, sondern vielmehr um Reformmodelle und Alternativen zum diesem bisherigen System. In 23 Abschnitten durchmessen die Autoren das ganze komplexe Terrain. Sie gehen zurück auf die „Enclosure of the Commons“, den privatrechtlich abgesicherten Raub der Allmende durch das (englische) Bürgertum seit dem 16. Jahrhundert (bereits Karl Marx setzte bei diesem schleichenden Prozeß an, um die Grundlage des Privateigentums und leistungsloser Bodenrente herzuleiten) und zeigen weiter, wie Bodenbesitz seither zwischen öffentlichen und privaten Eignern wechselte und zum Instrument der Macht- und Planungspolitik wurde. Die ausführlich erörterten großen Reformen gab es vor allem in der Theorie, sei es durch den Schweizer Sozialist, Architekt und Städtebauer Hans Bernoulli, sei es durch den deutsche Politiker Hans-Jochen Vogel, der das Bodenrecht als wichtiges politisches Instrument begriff. In einem praktischen Teil zeigt der Band dann gelebte Alternativen. Auch hier die Perspektive breit gewählt, die Beispiele stammen aus Europa und darüber hinaus.
Dass sich Herausgeber Florian Hertweck dazu entschied, Textsorten zu mischen, Interviews und Gespräche neben Essays zu stellen und grafische Darstellungen einzustreuen, bereichert den sehr schön layouteten Band weiter. Er ist als Einführung ins das Thema unbedingt zu empfehlen und sollte – denn die Sache ist keineswegs so kompliziert, wie sie klingt – eigentlich Schulstoff werden. Am Ende der Lektüre wird klar: Dass wir es in über fünfzig Jahren nicht geschafft haben, Architektur auf gemeinsamen Boden zu stellen, sehen wir an den massiv spürbaren Folgen einer (aus Sicht der Bevölkerungsmehrheit) verfehlten Bodenpolitik. Auf diesen Äckern und unter unseren Städten liegen wahrhafte sozialpolitische Minen vergraben. Werden sie nicht geborgen und entschärft, fliegen sie uns um die Ohren.
01.04.2021 |
Christian Welzbacher |
Architektur auf gemeinsamem Boden. Positionen und Modelle zur Bodenfrage. Hrsg.: Hertweck, Florian; Beitr.: Löhr, Dirk; Lootsma, Bart; Claus, Sylvia; la Varra, Giovanni. 288 S. 20 x 14 cm. Lars Müller Verlag, Zürich 2019. EUR 25,00. CHF 28,00 |
ISBN 978-3-03778-602-4
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