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Löwenmenschen und Schamanen

„Was der Archäologe nicht kennt, er kultisch nennt“, heißt ein altes Archäologen-Sprichwort, das immer dann zum Tragen kommt, wenn Befunde oder Funde vorliegen, die völlig aus dem bekannten Rahmen fallen. Wenngleich seit Generationen versucht wird, diesem Phänomen durchaus rational entgegenzutreten und Lösungsansätze für die Interpretation solcher spannenden Fragen zu schaffen, ist das Label „Kult“, „Magie“, „Schamanismus“ bis heute in der Archäologie häufig und schnell zur Hand. Seit der Arbeit des französischen Anthropologen und Archäologen André Leroi-Gourhan (Religion in der Vorgeschichte, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981), ist die Publikation gleichsam eines der wenigen bislang auf dem deutschen Markt erschienen Werke, die sich des Themas von archäologischer Seite her widmen und ein breites Publikum im Blick haben. Nicht nur die Fülle neuer Grabungsergebnisse, die seit 1981 die Fachwelt bereichern, auch das Fortschreiten naturwissenschaftlicher Analysen hat in den letzten 30 Jahren zu einem deutlichen Zugewinn und teils einer neuen Sichtweise auf altbekannte Funde und Befunde geführt. Es scheint daher mehr als geboten, eine aktualisierte Sicht auf dieses spannende Thema vorzulegen.
Nach einer kurzen Einführung in die unterschiedliche Terminologie: Magie, Schamanismus etc., wird anhand von thematisch ausgewählten Fallbeispielen im Folgenden das Phänomen vorgestellt.
Zunächst wird hierbei die europäische Höhlenkunst in den Fokus gerückt, die bereits seit Beginn der Forschung im Verdacht steht, Ausdruck magischer Handlungen und Rituale zu sein. Wenngleich bis heute viele Fragen bestehen, können jedoch gute Argumente vorgebracht werden, warum viele der hier gestalteten frühmenschlichen Bildwerke im Zusammenhang mit Schamanismus stehen könnten. Dabei gehen die Autoren kritisch auf alte Lehrmeinung wie etwa den von H. Breuil geprägten Begriff des „Jagdzaubers“ ein und finden gute Argumente, diesen weitgehend zu widerlegen (S. 21–22). Zwar verweisen die Autoren zu Recht auf die eindeutigen Unterschiede von in der Höhlenmalerei dargestellten Tieren und schließlich in der Umgebung der Höhlen auch archäologisch nachgewiesene Tierknochen, die mit Jagdhandlungen in Verbindung gebracht werden können. Allerdings – dies verdient es sicher gleichfalls erwähnt zu werden – sind selbstverständlich gerade diese archäologischen Nachweise zumeist auch eher spärlich und repräsentieren lediglich einen kleinen Ausschnitt der Vergangenheit. Größeren Raum nehmen vor allem die Darstellungen von Mischwesen in der Höhlenkunst ein, die seit ihrem ersten Bekanntwerden zu unterschiedlichsten Deutungen beflügelt haben. Die Autoren folgen dabei vor allem der Sicht des Archäologen D. Lewis-Williams, der seit einigen Jahren mit guten Argumenten einen Zusammenhang zwischen der Fertigung vieler dieser Darstellungen und Schamanismus sieht (Vgl. J. Clottes – D. Lewis-Williams, Schamanen. 2005 (dt. Ausgabe)). Dieser konnte vor allem nachvollziehbare Zusammenhänge zwischen der afrikanischen Höhlenkunst der San, zu der es auch gute ethnologische Berichterstattungen gibt, und denen der Eiszeitkunst glaubhaft machen. Einige seiner Beobachtungen werden daher in einem eigenen kurzen Kapitel abermals präsentiert (S. 35 ff.).
Einen wichtigen Teil des Bandes nehmen Objekte der Kleinplastik ein, die bereits im Titel und auf dem Cover deutlich in Szene gesetzt sind. Bis heute sind die kleinen Tierfigurinen, wie etwa der berühmte Löwenmensch aus der Schwäbischen Alb, der in das Aurignacien (41.000 – 31.000 v. Chr.) datieren dürfte, eine weitere Besonderheit der sogenannten Eiszeitkunst. Hier, wie auch bei weiteren Fundstücken, gehen die Autoren gleichsam von der Darstellung eines vielleicht sogar in Trance versunkenen Schamanen oder Priesters aus (S. 41).
Es folgt ein Kapitel zum Thema „Sonderbestattung“, welches freilich seit jeher in der Archäologie einen großen Stellenwert besitzt. Anhand einiger ausgewählter Beispiele werden in chronologischer Reihenfolge interessante Fälle vorgestellt, die offensichtlich von den aus der jeweiligen Zeit und Region bekannten Bestattungssitten abweichen: u. a. ein Frauengrab aus Bad-Dürrenberg, Hilazon Tachtit etc. In diesem Abschnitt werden gekonnt ethnologische Untersuchungen, wie die des auf H. J. Sell zurückgehenden Konzeptes vom schlimmen Tod, den archäologischen Grabungsbefunden gegenübergestellt (S. 51). Dabei wird aber erfreulicherweise nie ein 1:1 propagiert, sondern klar eine kritische Sichtweise präsentiert und zur Vorsicht gemahnt – gleichzeitig werden aber durchaus die wichtigen Chancen betont, die sich durch das Einbeziehen anderer Quellen und Kulturhorizonte eröffnen.
Eng mit der Bestattung selbst hängt freilich das Schmücken des Leichnams mit Amuletten etc. zusammen, was nicht selten zu „magischen Interpretationen“ der einzelnen Befunde geführt hat. Auch hier bleiben die Autoren erfrischend unverbindlich und kritisch, indem sie klar auf die Problematik der Nachweisbarkeit in vorrömischer Zeit verweisen (S. 56). Selten lässt sich über die eigentliche Funktion eines solchen „Schmuckobjektes“ Genaueres sagen, sodass stets ein großer Interpretationsspielraum herrscht.
Dies gilt auch für die anthropomorphen Figurinen, die vor allem ab dem Neolithikum in größerer Anzahl in Europa vorliegen und aufgrund der teils eingeritzten Ornamente auch unterschiedlich gedeutet wurden. So finden sich in der Literatur Ansätze wie Darstellung von Tätowierung oder aber Kleidungsapplikationen (S. 72). Als Deutung wird hier, J. Lüning folgend, eine Verwendung als Ahnenbildnisse im Sinne der später bekannten Hausgötter (S. 74) vorgeschlagen.
Neben den teils seit vielen Jahren gut bekannten Funden scheuen sich die Autoren zudem nicht, auch durchaus problematische bzw. sehr fragwürdige Funde kurz im hier umrissenen Themengebiet vorzustellen. Hierzu gehören etwa die sogenannten Brotlaibidole aus der frühen Bronzezeit (ca. 1850 – 1400 v. Chr.), die bis heute kaum zufriedenstellend erklärt sind und die hier als magische Amulette andiskutiert werden (S. 79). Darüber hinaus wird in einem eigenen Kapitel auf die große Problematik Musik und ihre mögliche Funktion in der Vorgeschichte eingegangen. Musikinstrumente sind auch in Form archäologischer Funde spätestens ab dem Jungpaläolithikum bekannt. Wenngleich in unterschiedlichen Kulturkreisen Blas- und v. a. Perkussionsinstrumente im Rahmen von Trance und Schamanismus eine Rolle spielen, ist dies zwar für die vorgeschichtlichen Funde sicherlich ein interessanter Deutungsansatz, doch sind weitere Aspekte durchaus mit ebensolcher Berechtigung denkbar. Wichtig ist es daher – wie dies auch die Autoren herausarbeiten – eine Vielzahl von Indizien, wie etwa den Fundkontext und Verzierungen etc., in die Deutung einzubeziehen (S. 92ff.).
Ebenfalls durch die Arbeiten von D. Lewis-Williams in den Fokus gerückt ist schließlich der Einsatz von berauschenden Drogen zur Unterstützung in Ritualen. Dieses Unterfangen ist selbstverständlich allein aufgrund der Schwierigkeit des archäologischen Nachweises problematisch und verdient besondere Vorsicht. Als ein bekannter und zur Vorsicht mahnender Befund kann sicherlich ein Grab dienen, das von den Autoren als Paradebeispiel herangezogen worden ist: Shanidar IV, eine Neanderthalerbestattung in einer Höhle des heutigen Irak. Aufgrund des Fundes von Blumen und Hinweise auf die berauschende Pflanze Ephedra hatte der Befund über Fachkreise hinaus als „Blumengrab“ zunächst für Aufregung gesorgt. Heute gehen wir jedoch begründet davon aus, dass es sich bei den Pflanzenresten nicht um Grabbeigaben, sondern um wohl durch Mäuse sekundär hervorgerufene Störungen handelt. Von einer Einnahme von „Crystal Meth“, wie es die Autoren etwas flapsig benennen, muss man sich also verabschieden (S. 96). Andere Rauschpflanzen wie etwa Schlafmohn, Hanf und diverse Pilze sind jedoch mit Sicherheit für die europäische Vorgeschichte anzunehmen und teils auch recht gut belegt. Es darf daher gemutmaßt werden, dass der bewusste Einsatz von Drogen für bestimmte Rituale durchaus bereits seit der frühen Menschheitsgeschichte eine Rolle spielte (S. 99–100).
Der Band endet mit einem kurzen Ausblick auf die Frage nach Großsteinbauten, die möglicherweise nicht nur als monumentale Grabbauten, sondern gleichsam aufgrund ihrer guten Akustik unser Interesse verdienen (S. 105–106). Ähnlich wie im Falle der Musikinstrumente mag hier ein beabsichtigter Zusammenhang bestehen.
Im prägnanten Ausblick und abschließenden Abschnitt lassen die Autoren abermals kurz Revue passieren und betonen nochmals die Bedeutung der Vorsicht bei der Interpretation vieler dieser Befunde und die generelle Problematik der Beweisführung. Auf der anderen Seiten stehen sie für eine verstärkte Beschäftigung mit diesen bislang eher als Randphänomene begriffenen Themen ein, die möglicherweise im Fach selbst zum „emotional turn“ führen könnten (S. 107).
Zusammenfassend darf hervorgehoben werden, dass das Buch vor allem durch seine gute und nahezu durchweg farbige Bebilderung und die prägnanten, klaren und kurzen Kapitel lebt, die jedem Interessierten und Fachmann zugleich einen guten und kurzweiligen Einstieg in das sehr komplexe Bearbeitungsgebiet erlauben. Einige kleine Tipp- und Flüchtigkeitsfehler wie beispielsweise die unterschiedliche Schreibweise für den französischen Gelehrten Henri Breuil (nicht: Henry Breuil (S. 29; S. 30)) oder die Nennung unterschiedlicher Anzahl an Individuen wie im Falle der Bestattung von Hilazon Tachtit (S. 50: 25 Individuen; S. 65: 28 Individuen – der originale Grabungsbericht spricht sich für 28 aus: cf. L. Grosman et al. 2008), sind dabei nur Marginalien, die kaum ins Gewicht fallen.

04.11.2019
Robert Kuhn
Löwenmenschen und Schamanen. Magie in der Vorgeschichte. Zeeb-Lanz, Andrea; Reymann, Andy. 2019. 112 S. 120 meist fb. Abb. 28 x 21 cm. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2019. EUR 28,00.
ISBN 978-3-8062-3989-8
 
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