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Napoleons Konfiszierungen in Deutschland und die europäischen Folgen

2003 in Frankreich und 2010 unverändert in deutscher Übersetzung erschienen, beschreibt Benedictine Savoy in ihrer Dissertation, die nach 1794 im Gefolge französischer Eroberungszüge praktizierte Aneignung hauptsächlich deutscher Kulturgüter (Bücher, Gemälde, naturwissenschaftliche Sammlungen, aber auch handwerkliche und industrielle Innovationen) und deren teilweise Restitution nach Napoleons Niederlagen 1814/15. Die semantischen („Verbringung“, „Transfer“) und ethischen Volten für die Begründung dieses Kunstraubs klingen uns vertraut: sollten anfangs die unter dem ausländischen Joch der Unfreiheit leidenden Meisterwerke der Kunst in die Heimat der Freiheit, Frankreich, „zurück“geführt werden, so zeigte sich die Professionalisierung so verstandenen Kunstsammelns nach Preußens Niederlage 1806 in dedizierten Wunschlisten Pariser Institutionen für Objekte aus deutschen Bibliotheken und Privatsammlungen; auch die Berliner Quadriga gelangte damals nach Paris.

Savoys methodischer Ansatz, diese in Deutschland und Frankreich bisher national geprägte Kunstraub-Historiographie durch (den Rückgriff auf) eine aufklärerisch-universalistische Sichtweise abzulösen, lenkt unseren Blick auf ein um 1800 so bisher nicht gesehenes internationales Personengeflecht, dessen Kulturverständnis gleichwohl national geprägt ist: in Frankreich sind seine universalistisch-kosmopolitische und national-patriotische Komponente sehr eng miteinander verbunden, bei der sich verspätenden deutschen Nation jedoch voneinander separiert, ja hier wird die nationale Komponente von Kunst, wie Savoy dokumentiert, erst durch den napoleonischen Kunstraub einer breiteren Öffentlichkeit bewusst. Blitzlichtartig zeigt sich dieser Spannungsbogen 1814/15, als der sich allein kosmopolitisch verpflichtet fühlende Alexander von Humboldt, mit der Hilfe bei der Rückführung deutscher Kulturgüter aus Paris beauftragt, dabei verständlicherweise kaum hilfreich sein mochte, während dem mit militärischem Druck operierenden, sich primär preußisch verstehenden General Blücher die Rückführung des größten Teiles der preußischen Kulturgüter gelingt.

Savoys sprachlicher Duktus erlaubt es, ihr verständnisvolles Kopfschütteln über Beschränktheiten des sich kosmopolitisch verstehenden deutschen Idealismus zu erkennen. Sie befindet sich damit in der Nachfolge von ihr hier benannter französischer Zeitgenossen um 1800 und schreibt so zudem auch ein wenig historische und aktuelle Mentalitätsgeschichte. Das macht die Autorin sympathisch – dieses Kompliment muss erlaubt sein – und versöhnt so ein wenig mit den Defiziten ihrer Studie: zu viele und zu anspruchsvolle Leitfragen, fehlende Schlussfolgerungen aus doch dediziert gegebenen Antworten, schließlich ein nur bruchstückhaft vorgetragenes Schlussrésumée wie ihre deshalb vom Leser herauszufindende Antwort auf die selbstgestellte Frage, ob die nach Frankreich transferierten Werke von ihrem Exil profitiert oder unter ihm gelitten hätten.
Anderes zeigt sich, auch durch Rekurrieren, deutlich(er): durch den Kunstraub bedingte Veränderungen der musealen Praxis in Deutschland für eine nun größere Öffentlichkeit, Zentralisierungsbestrebungen im sich etablierenden Museumswesen Preußens nach 1814, und vor allem der nun beginnende Sensibilisierungsprozess für die bisher als „primitiv“ geltenden „Altdeutschen“ wie Cranach und Dürer – kunsthistorischer Paradigmenwechsel ebenso wie Projektionsfläche für das beginnende Streben nach nationaler Identität und Einheit; beides soll bald auch für die „deutsche“ Gotik gelten.

All das ist sehr gut dokumentiert dargelegt und weckt den (auch von der Autorin zugestandenen) Wunsch nach ein wenig mehr Unterfütterung durch zeitgenössische Bezüge zu Politik/Geschichte und Philosophie. Denn das ist der Gewinn aus dieser Studie: wir sehen uns und unseren Nachbarn Frankreich kulturell, politisch-historisch und mentalitätsgeschichtlich in einem historischen und zugleich aktuellen Spiegel, den man sich nach dem Lesen von Savoys Arbeit noch größer und klarer wünscht. Ob, in dieser bewusst post-nationalen historiographischen Studie, Pierre Rosenbergs Vorwort-Verdikt von der nationalen Einzigartigkeit des deutschen Kunstraubes zwischen 1939 und 1945 diesen Spiegel nicht (wieder) zum Zerrspiegel macht, wird die künftige Kunsthistoriographie entscheiden.
Benedictine Savoy ist 2011 Professorin für Kunstgeschichte an der TU Berlin und Kuratorin der Ausstellung „Napoleon und Europa. Traum und Trauma“ in der Bonner Bundeskunsthalle (17.12. 2010 bis 25.4.2011).

16.03.2011

Wolfgang Schmidt, Berlin-Friedenau
Savoy, Bénédicte. Kunstraub. Napoleons Konfiszierungen in Deutschland und die europäischen Folgen. Mit einem Katalog der Kunstwerke aus deutschen Sammlungen im Musée Napoléon. 496 S. 629 Abb. 24 x 17 cm. Gb., Böhlau, Wien 2010. EUR 49,00
ISBN 978-3-205-78427-2
 
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