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Eine Reise zu den Anfängen des Denkens in der Steinzeit

Pünktlich zur Reisezeit ist bei C. H. Beck ein wirklich phänomenales Buch erschienen, was den Leser einmal auf eine ganz andere Reise mitnimmt. Die Reisebegleitung ist Silvia Ferrara, renommierte Professorin für Ägäische Kulturen in Bologna, die von 2018 – 2023 im Rahmen eines Forschungsprojektes vor allem die Entstehung bzw. den Beginn der Schrift untersucht. In diesem, vorwiegend für ein breites Publikum geschriebenen Buch, gelingt es ihr von Anfang an den Leser in den Bann dieses hochspannenden Themas zu ziehen. Einem engagierten Reiseführer gleich, weiß die Autorin die einzelnen Stationen dieser Reise, die sie auch größtenteils selbst unternommen hat, in wohlgesetzten Worten zu präsentieren. Seien es die paläolithischen Felsbilder, frühe ägyptische Petroglyphen oder eben die fast 10.000 Jahre alten Petroglyphen vom Göbekli Tepe. Die einzelnen Stationen werden in acht Kapiteln vorgestellt, die treffender nicht bezeichnet werden könnten: Anlauf – Absprung – Der Sprung nach vorn – Der Sprung nach oben – Der Sprung hinaus – Der Sprung ins Dunkel.
Dabei bricht sie nicht selten mit der bisherigen Tradition der Erklärung vieler der hier präsentierten Reiseziele. Hatte man vor allem die sogenannten französischen und spanischen Bilderhöhlen Anfang des Jahrhunderts noch häufig vor allem mit Jagdzauber und Schamanismus in Verbindung gebracht (S. 44), plädiert S. Ferrara immer wieder für eine kritische Sichtweise solcher, allzu schnell vorgelegter Deutungen. Dies ist nicht nur erfrischend und widersetzt sich der in ähnlichen Werken zu findenden allzu schnellen und klaren Deutungsansätze, es ist auch Grund auf ehrlich. Völlig zu Recht erinnert S. Ferrara an die Problematik des Fundzufalls, der vor allem in der Archäologie der frühesten Menschheitsgeschichte noch immer große Bedeutung zukommt. Zudem hinterfragt sie die allzu schnell erbrachten Zuweisungen und Interpretationen beispielsweise als „Kunst“ und „Protoschriften“. Sie offenbart damit gleichsam, wie schwammig viele dieser Begriffe sind und wie schwierig die Verwendung einer adäquaten Terminologie ist. Diese Kritik ist oftmals mit einem Augenzwinkern charmant umgesetzt und findet sich in Sätzen wie „Als trete man in die Metaphysik des Paläolithikums ein. Kurz gesagt, man versteht rein gar nichts, aber welch ein „Nichts“. (S. 57). Bei aller Kritik behält die Autorin den Gegenstand ihrer Forschung im Blick und gerät darüber ins Schwärmen. Sie nimmt den Leser dabei auf eine Erkundungsreise rund um die Welt mit: Wir betreten das „prähistorische Kino“ (S. 33) der europäischen Bilderhöhlen; wir reisen nach Afrika und schauen uns die 60.000 Jahre alten abstrakten Zeichen der Blombos-Höhle an (S. 75ff.), wir empfinden die erste große Migration über das Meer nach Australien vor ca. 65.000 Jahren nach (S. 81) und werden schließlich Zeugen der frühesten afrikanischen Felsbildkunst im sogenannten Aqualithikum (S. 95). Letztere findet sich beispielsweise in Form von Rinderdarstellungen aus Qurta, im heutigen Ägypten, die auf ein Alter von mindestens 15.000 Jahren auch naturwissenschaftlich datiert werden konnten (S. 95–96). Es folgen schließlich kleinere Abstecher nach Jordanien (111–120) und Amerika (S. 121–126), nach Italien (S. 127–137) sowie solche nach Göbekli Tepe (S. 142–159) in der heutigen Türkei, in den Iran (S. 159–165) und schließlich nach Malta (S. 165–173).
Wenngleich wir häufig vor allem an übergroße Tierdarstellungen denken, wenn es um sogenannte „steinzeitliche Kunst“ geht, wird doch häufig übersehen, dass vor allem auch kleinere, abstrakte Zeichen bereits von früh an als wichtige Begleiter dieser Tableaus erscheinen und gerade für die Interpretation und der Frage nach bereits existierenden Codes etc. eminent wichtig sind. Gleichzeitig kann und muss hinterfragt werden, welche Bedeutung die Tierdarstellungen selbst hatten (Darstellung eines Tieres oder bereits ein Code für ein Abstractum?, etc.). So stellt Ferrara immer wieder Fragen nach dem funktionalen oder ästhetischen Wert dieser Zeichen, die sich bis heute nur schwer beantworten lassen. Wenngleich wir wohl nie mit Sicherheit wissen werden, was es damit auf sich hat und vieles letztlich Hypothesen bleiben, ist es doch eine der Aufgaben der Archäologie und Semiotik, sich diesen Fragen auf nüchterne und wissenschaftliche Weise zu nähern. Hierauf versteht sich die Autorin, die sich mit einem Augenzwinkern selbst „Semiotitis“ attestiert, hervorragend. Sprachgewaltig gelingt es ihr nicht nur die einzelnen Forschungsobjekte plastisch vorzustellen, sondern vor allem eine kritische Brille aufzubehalten. Zwar werden durchaus ältere Interpretationsansätze erwähnt und gewürdigt, doch nicht selten mit einer Prise Humor gewürzt durchaus und völlig zu Recht in Frage gestellt: seien es die Mythogramme und der Versuch die gesamte Parietalkunst auf zwei Konzepte, nämlich männlich und weiblich zu reduzieren, wie dies etwa A. Leroi-Gourhan in den 1960–1970er Jahren unternahm oder eben die Ideen psychedelischer und schamanistischer Einflüsse bei der Gestaltung der „Kunst“-Werke. Die gültigen Resultate ihrer Re-evaluation fallen dabei zwar teils vage und ungewiss aus: „Die Spuren der Vergangenheit sind allesamt Symbole. Sie trotzen der Zeit, schwimmen gegen den Strom und leisten dem Untergang sichtbar und unverbrüchlich Widerstand, zumindest solange sie können.“ (S. 209), doch lesen sie sich gerade im Hinblick auf viele bereits existierende allzu starr gefasste Interpretationsansätze erfrischend ehrlich. Das Ergebnis ist ein großes Buch, was die bislang frühesten bekannten menschengemachten Symbole und Darstellungen nüchtern, kritisch und lebendig vorstellt – schlicht ein großer Wurf und ein wahres Lesevergnügen. Letzteres verdankt sich nicht zuletzt der großartigen Übersetzung aus dem Italienischen von Enrico Heinemann. Daneben überzeugt auch die Ausstattung mit 27 Farbtafeln in der Mitte des Buches sowie die aufs Wesentliche reduzierten Literaturhinweise in der Bibliographie.

07.07.2023
Robert Kuhn, Berlin
Der Sprung. Eine Reise zu den Anfängen des Denkens in der Steinzeit. Ferrara, Silvia / Heinemann, Enrico. 224 S. 32 meist fb. Abb. 21,7 x 14 cm Gb. C.H. Beck Verlag, München 2023. EUR 26,00

ISBN 978-3-406-79782-8   [C. H. Beck]
 
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