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Der Bordesholmer Altar des Hans Brüggemann

Mit seiner Höhe von 12,6 Metern gilt der Bordesholmer Altar als einer der größten im Land, und wegen seiner mit größter Kunstfertigkeit in Eichenholz geschnitzten über 400 Figuren als einmalig. Die Literatur über den 1521 aufgestellten Altar ist sehr umfangreich.

Das Besondere an diesem Band ist zunächst der interdisziplinäre Ansatz des Symposiums vom 23.-25. September 2021. Er Umfasst in 20 reich bebilderten Beiträgen Theologie-Geschichte, Kirchengeschichte, Regionalgeschichte, Personengeschichte, Kunst-Technologie und, natürlich, Kunstgeschichte mitsamt einiger ihrer Spezialrichtungen inklusive Rezeptionsgeschichte. Zumindest einige der Beiträge berücksichtigen auch Literatur bis ins 1. Halbjahr 2023.

Zu den neuen Erkenntnissen oder Vorschlägen gehören wichtige Überlegungen aus bisher nicht beachtetem Blickwinkel. Zu dem Gesamtkonzept, in welches der Altar offenbar eingebunden war, gehört, so die überwiegende Meinung, auch die Grabtumba von Herzog Friedrich I. und Herzogin Anna von Brandenburg (1518) in der Bordesholmer Klosterkirche, ferner das Chorgestühl (1508) und die drei Gewölbe-Schlusssteine ebendort.

Der Beitrag von Andreas Müller zur Theologie des Kirchenvaters Augustinus in Beziehung zum Konvent in Bordesholm (S. 92-103) geht wohl am Weitesten. Müller vermutet, dass –- vor dem Hintergrund der Reformbewegung der „Devotio Moderna“ (welcher der Konvent anhing) -- das gesamte Retabel als „eine geschnitzte Leichenpredigt einen Weg in eine selige Zukunft vor Augen stellen sollte“. (S. 99). Deshalb versteht Müller das vollkommen nackte, kniende und anbetende Menschenpaar, das unterhalb des Weltenrichters zu sehen ist, auch nicht als Adam und Eva, sondern nach Augustinus als das in Vollkommenheit auferstandene Herzogspaar.
Auch fragt Müller, ob die beiden gleich großen, etwas überdimensionierten Kelche in dem Predellenfeld mit dem sog. „Nachösterlichen Liebesmahl“ die göttliche bzw. die menschliche Natur Christi bedeuten sollen. Wie auch andere Beiträgler sieht er die Christkinds-Figur in der Predellen-Mitte als Repräsentation der Inkarnation bzw. Menschwerdung Gottes, weshalb im gesamten Altar eine Geburts-Szene fehlt.

Mehrere Autoren sind sich einig auch in der Zuschreibung der Großfiguren rechts und links erhöht neben dem Altar an Kaiser Augustus und die Tiburtinische Sibylle. Ausführlich dazu Thomas Sternberg. Dieser macht außerdem wahrscheinlich, dass dieselbe Christkind-Figur im „Tabernakel“ der Predella dort seit Aufstellung des Altars vorhanden war.

Auch wird mehrfach hingewiesen darauf, dass der Altar nicht nur einen Passions-Zyklus darstellt, der übrigens nur an wenigen Festtage zu sehen und sonst durch die geschlossenen Flügel verborgen war. Vielmehr sollte wohl das Gesamtkonzept mitsamt der herzoglichen Grabtumba den gesamten göttlichen Heilsplan (vielleicht am Beispiel des Herzogspaares mit Friedrich I. als Friedenskaiser?) verbildlichen.

Zentral darin war, entsprechend dem Geist der Devotio Moderna, die gemeinschaftliche Abendmahls-Feier auf der Grundlage der Menschwerdung / Inkarnation Gottes, die stets sichtbar, unten in der Mitte des Retabels durch das Christkind repräsentiert wird, dort, wo sonst im Tabernakel etwa eine Monstranz mit Hostie ausgestellt war. Da hier das vergitterte Gefach mit dem Christkind nur von der Rückseite aus geöffnet werden kann, entfällt seine alte Funktion als Tabernakel.

Dieses Gesamtkonzept erklärt auch, warum der Bordesholmer Altar kein „Weltgericht“ mit Höllenrachen, Zug der Seligen und der Verdammten etc. darstellt (wie in Dürers „Kleiner Passion“), sondern die Wiederkunft Christi am Jüngsten Tag, die Parusie. Dabei ruft Christus, gedacht unmittelbar vor dem Weltgericht, die Seligen zur Auferstehung, die Verdammten kommen dabei nicht vor (vgl. Mk 13,26f., Mt 25, 31-46). Im Beitrag von Lisanne Heitel „Die Rezeption von Albrecht Dürers ‚Kleiner Kassion’ im Bildprogramm des Brüggemann-Retabels“ (S. 248-257) vermisse ich u. a. Dürers Weltgerichts-Bild (das im gesamten Tagungsband fehlt). Dort sind der Höllenrachen sowie die Züge der Seligen und Verdammten zu sehen und auch, dass Christus mit seiner nach unten gerichteten Linken die Verdammten in die Hölle schickt: ein auffälliger Unterschied zu der Darstellung der Wiederkunft Christi im Gesprenge von Brüggemanns Retabel.

In die kirchenpolitische Situation im südwestlichen Ostseeraum wird eingeführt von Oliver Auge. Stefan Magnussen betrachtet die Memorial-Praxis und Stiftungs-Kultur in der Region; Enno Bünz beleuchtet die praktisch-wirtschaftlichen, religionspolitischen und geistlichen Beziehungen zwischen dem Bordesholmer Augustiner Chorherren-Stift und jenen in Bad Segeberg und Neumünster. Gisela Muschiol lieferte einen Beitrag zur Frage der „Reformkonkurrenzen“ im Spätmittelalter, und zwar innerhalb und außerhalb der von Geert Groote um 1378 in Deventer gegründeten Devotio Moderna-Bewegung, deren Vielfalt und Diversität Muschiol mit etlichen Fragen ausbreitet. Dabei bezieht sie auch die Windesheimer sowie die Bursfeler Kongregation ein. Tim Lorentzen befasst sich mit der Beziehung zwischen dem Brüggemann-Retabel und dem geistlichen Spiel der „Marienklage“ (verschriftlicht 1476, aufgeführt in Bordesholm evtl. bis zur Reformation?) besonders unter dem Aspekt „Solus Christus vor Luther“.

Übrigens werden Ingeborg Kählers Arbeiten (bes. 1981 sowie 1996) quasi rehabilitiert, die zeitweilig stark angegriffen wurden, unter anderem von Horst Appuhn (1924 - 1990), dessen zahlreiche, zum Teil grundlegende Arbeiten seit 1952 hier gleichwohl immer wieder gewürdigt werden.

Einige Fragen blieben offen, andere wurden kontrovers diskutiert, so etwa das Thema Holzsichtigkeit. Ein Beitrag zum Bordesholmer Chorgestühl konnte leider nicht aufgenommen werden. Viele Aspekte zeitigten weiterführende Überlegungen, wie z. B. zum Goschof-Altar. Dort sieht Constanze Köster mit guten Gründen in der bildmittigen Fehlstelle eine Arbor-Annae-Darstellung inklusive der hl. Emerentia. Georg Habenichts Beitrag sieht den Altar vor allem als Investitions-Ruine, deren Fertigstellung der Reformation zum Opfer fiel.

Insgesamt bringt dieser „Tagungsband“ eine nahezu unerschöpfliche und lebendige Ernte zutage. Nicht alle Beiträge können hier angesprochen werden. Nicht vergessen werden darf aber die überreiche bildliche Ausstattung des Bandes, auch wenn deren Gebrauch mitunter verwirrend kompliziert ist, etwa bei mehreren Doppelungen (die allerdings meist begrüßenswert sind).

02.09.2023
Hans-Curt Köster
Der Bordesholmer Altar des Hans Brüggemann. Tagungsband zur interdisziplinären Tagung zum 500-jährigen Bestehen des Bordesholmer Altarretabels von Hans Brüggemann: 23. bis 25. September 2021. Hrsg.: Auge, Oliver; Köster, Constanze; Kuhl, Uta; Sadowsky, Thorsten. Der Bordesholmer Altar. 336 S. 28 x 23 cm. Imhof Verlag, Petersberg 2023. EUR 49,95. CHF 57,40
ISBN 978-3-7319-1313-9   [Michael Imhof]
 
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