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Gestalten des Mittelalters

Sie heißen "Die Päpstin", "Die Ketzerin" oder "Das Spiel der Könige", populäre historische Romane, die im Mittelalter angesiedelt sind, erobern die Bestsellerlisten und auch in Sachbüchern wird diese Zeit erschlossen. Ob nun Essen und Trinken, Gartenkultur oder Ritterspiele, nahezu jeder Bereich mittelalterlichen Lebens findet ins Buch. Was aber noch fehlte, liegt jetzt vor. Zwei ausgewiesene Philologen, Horst Brunner und Mathias Herweg taten sich zu einem Lexikon historischer und literarisch-fiktiver Personen zusammen, die durch Musik, Literatur und Kunst in das europäische kollektive Gedächtnis eingingen und das unter dem Titel "Gestalten des Mittelalters" firmiert. Behandelt wird der Zeitraum von 500 n.Chr. bis 1500, aber es wurden auch einige Gestalten aus der christlichen Antike, die im Mittelalter noch von Bedeutung waren, aufgenommen und die Autoren beschränkten sich auf Personal, das relativ bekannt und rezeptionsgeschichtlich relevant ist. Weitere Kriterien beziehen sich auf die Aussagekraft des Stoffes wie etwa die deutsch-germanische Heldendichtung der Nibelungen und der Dietrich-Epik, selbstverständlich mit dabei auch die heroische Dichtung um Roland, die Artusdichtung und Tristandichtung und das Typenspektrum. Auf den Vorspann folgt ein weiterer, darin enthalten ist ein Siglenverzeichnis der Mitarbeiter an den einzelnen Lexikonartikeln, ein Lemma- und Abkürzungsverzeichnis und eine Bibliographie häufig zitierter Literatur.

Den Anfang macht der Eintrag zu Abaelard (1079-1142), einem Philosophen, Theologen, Musiker und Dichter, der durch seine unglückliche Liebe zu Heloise unsterblich wurde. Vielleicht am bekanntesten ist die Verarbeitung deren Leidensgeschichte durch Jean-Jacques Rousseau im Briefroman La Nouvelle Heloise von 1761, moderne Aufarbeitungen, so Horst Brunner, "blieben ohne größere Resonanz". Beigegeben ist diesem Eintrag eine Abbildung von 1350, die das unglückliche Liebespaar zeigt. In insgesamt 73 Abbildungen zu Lexikonartikeln wird diese Zeit auch visuell lebendig. Was dagegen ein wenig vernachlässigt wurde bezieht sich auf die theologisch-philosophische Bedeutung von Abaelard im Universalienstreit, in der Abaelard einen gemäßigten Realismus vertritt. Da aber auch die anderen Protagonisten des für die Moderne so entscheidenden Disputs nicht aufgenommen wurden, kann man diese Entscheidung der Herausgeber verstehen, allerdings spielt dieses erkenntnistheoretische Drama bei Umberto Ecos Mittelalterroman Im Namen der Rose durchaus eine Rolle. Auch ein weiterer Fall verdient Beachtung, die literarische Verarbeitung der Rolanddichtung. Am bekanntesten ist heute wohl die Bearbeitung durch Ludovico Ariost im Orlando Furioso von 1516. Während die Herausgeber sich am Beispiel von Oswald von Wolkenstein (1376/77-1445) entschieden auch die aktuellste Bearbeitung durch den Schriftsteller Dieter Kühn in Ich Wolkenstein von 1977 aufzunehmen, unterließen sie es darauf hinzuweisen, dass der Schriftsteller Italo Calvino unlängst die Ariost-Bearbeitung neu in Szene setzte und von dessen rund 4800 Stanzen 900 behielt. Der Maler Johannes Grützke lieferte dazu kongeniale Illustrationen und es geht noch weiter. Im wesentlichen wurden künstlerische Bearbeitungen literarischer und historischer Gestalten des Mittelalters aufgenommen, die Eingang in die Hochkultur fanden.

Mit dem Eintrag zu Till Eulenspiegel wird ein ganzes Genre, die Narrenliteratur, aufgerufen. Der Autor des Artikels, Johannes Rettenbach, lädt zu einer kleinen tour d'horizon ein, navigiert aber am Narrenschiff von Sebastian Brant (1457-1521) vorbei, obgleich dieser mit Albrecht Dürer zusammenarbeitete und eine kleine Narrentypologie vorlegte. Till aber zog ein ganzes Gefolge hinter sich her und Rettenbach lässt Bearbeitungen von Wilhelm Busch, Erich Kästner und von Gerhard und Christa Wolf aufmarschieren. Auch bei Oswald von Wolkenstein treten sie im Lied "Her wiert uns dürstet" als "thschorffe" (Depp), "lempeyl" (Trottel) und "orffe" (Schafskopf) auf. Selbstredend, das Genre ist beliebt, bis heute, deshalb erschien im vergangenen Jahr von Axel Scheffler ein großes Hausbuch der Narren und Schelme.

Dass man auch zum Narren hätte andere Bearbeitungen anführen können, das soll nicht kritisch, sondern konstruktiv angemerkt werden. Für Freunde der Hochkultur ist ein gut lesbares Buch in 218 Artikeln entstanden, für Freude der Populärkultur aber bietet es kaum Hinweise. Da diese Reise aber so spannend gestaltet wurde und es auch zahlreiche Hinweise zu bildkünstlerischen, sehr interessant auch die Hinweise zum musikalischen Nachleben der Figuren, enthält, bleibt nur eines zu wünschen, eine neue Zeitreise sollten die Autoren, am besten wieder bei Kröner, anstreben.





Sigrid Gaisreiter
Gestalten des Mittelalters. Hrsg. Horst Brunner, Mathias Herweg. Lexikon historischer und literarischer Gestalten. Kröners Taschenausgabe. 352. 528 S, 73 Abb., 17 x 11 cm, Ln, Kröner, Stuttgart 2007. EUR 26,00
ISBN 978-3-520-35201-9
 
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