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Ernst Ludwig Kirchner. Der gesamte Briefwechsel

Ernst Ludwig Kirchner eilt der Ruf voraus, als Mensch schwierig gewesen zu sein und als Künstler den Anspruch eines opinion leader für sich in Anspruch genommen zu haben, besonders was die Prioritäten der Stilfindung der „Künstlergruppe Brücke“ angeht. Der manische Drang, sich selbst darzustellen ist hier mit einem wahrhaft bedeutenden Oeuvre verbunden, das dergleichen eigene Glorifizierung zu keiner Zeit nötig hatte. Wirkliche Geltung und bemühtes Geltungsbewußtsein stehen in einem schwer verständlichen Mißverhältnis zueinander. Um die ihm selbst wesentliche Vorrangstellung zu untermauern, nahm er Vordatierungen seiner Werke vor, erfand sogar einen Kritiker Louis de Marsalle, der sein eigenes Sprachrohr wurde, aber natürlich nicht erreicht werden konnte, da er sich stets auf Reisen befand. Diese Fakten rühren nicht an Kirchners überragende Bedeutung für die Entstehungsgeschichte der expressionistischen Malerei, sie geben nur ein Bild der Fragilität seiner selbst konstruierten Persönlichkeit. Dementsprechend steht das Gesamtbriefwerk unter dem Titel: „Die absolute Wahrheit, so wie ich sie fühle.“

Dass dieser Selbststilisierung kein durchgängiges schlüssiges Konzept zugrunde lag, betont der Herausgeber Hans Delfs: „Man muß wohl davon ausgehen, daß Kirchner für historische Daten wenig Sinn hatte.“ (I, S. 80) Das bedeutet aber zugleich, daß er sich der Sinnlosigkeit und Widersprüchlichkeit seiner Vordatierungen gar nicht bewußt sein konnte. Dasselbe gilt von Fakten: Eine Lungentuberkulose erscheint als eigene Krankheit im Ersten Weltkrieg, wird aber nie wieder erwähnt. Eine Internierung in geschlossener Anstalt scheint auf einen Selbstmordversuch hinzuweisen, der nie thematisiert wird. Diese Briefe verschleinern und entschlüsseln zugleich. Kirchner leidet an Tablettensucht und erbittet ständig außerplanmäßige Verschreibungen von Morphium, er streitet sich um Abdruckrechte und Bildrücksendungen, verlangt unerhört hohe Reprohonorare für die Veröffentlichungen seiner Werke, die er sich gleich darauf wieder verbittet. Er stellt seine „Rheinbrücke“ der Nationalgalerie zu beliebiger Verfügung, entzieht sie ihr aber sogleich. Er legt sich seine Argumente zurecht, wie sie gerade passen. „Es war nie meine Absicht, auf die Masse zu wirken.“ (I, S. 393) versus „[…] schließlich ist man doch verpflichtet, seinen Teil beizutragen an der Geschichte der Kunst dieser Zeit.“ (III, 2002).

Kirchner bedauert seinen Arzt, weil jener „in allen Äußerungen anderer Angriffe auf sich sieht.“ (III, S. 1876), ein klassischer Fall von Projektion, und er wettert gegen die alten „Brücke“-Gefährten: „Für mein Empfinden nach dem Ausdruck von Schmidt-R.[ottluff] Köpfen und Körpern hasst er die Menschen. Ich liebe sie alle […].“ (III, 1880) Das Einfache ist hier nicht einfach, und das Werk wird zum Anlaß ständiger Selbstrechtfertigung oder Abgrenzung. Gewiß keine immer erbauliche Lektüre. Aber, wer auf die Zeitumstände und Personen eingestellt ist, erfährt sehr viel Neues. Er erfährt viel über die Ausstellungspraxis, sei es nun zur Kölner Werkbundausstellung oder zur Ersteinrichtung der Neuen Nationalgalerie im Kronprinzenpalais. Er lernt den beginnenden Kunsthandel mit deutschem Expressionismus, auch in den USA kennen. Die Händler Ludwig Schames oder Curt Valentin gewinnen Gestalt. Sammler aus dem engeren Kreis, etwa die Grisebachs, Eberhard Gothein der Wilhelm Valentiner, äußern sich und gewinnen individuelles Profil.

Selbst die freilich nur hypothetischen Gründe zum Suicid, Angst vor dem wenige Kilometer von Davos entfernten NS-Regime und Verzweiflung über das Schicksal seiner in Deutschland gebliebenen Bilder, sind nun wohl zu relativieren, da der ärztliche Bericht von einer Entziehungskur berichtet, der sich Kirchner unterzogen hatte und die zu nervlicher Belastung und Angstzuständen beitrug.

Modern erscheinen Kirchners Ideen, daß die großen Museen durch ihre Ausleihe aus Privatsammlungen den Künstler schädigen, weil sie keine Neuankäufe tätigen oder, daß alte und neue Meister gemischt und nicht nach Epochen geordnet in den Ausstellungsräumen präsentiert werden sollten.

Die Benutzung der drei kompakten Leinenbände wird durch einen separaten schmalen Registerband sehr erleichtert, der das Auffinden von Personen, Kunstwerken und Seitenzahlen auch dann ermöglicht, wenn die die drei Briefbände aufgeschlagen sind. Briefe und Briefregesten werden meistens knapp, immer aber allgemein verständlich kommentiert. Insgesamt ein Kompendium, daß sich an Forscher und fachlich Interessierte wendet, in einer Edition von Rang.

05.10.2010



Jörg Deuter
Kirchner, Ernst L: Ernst Ludwig Kirchner. Der gesamte Briefwechsel. 4 Bde/Tle. Vorw. v. Kornfeld, Eberhard W /Komment. v. Delfs, Hans /Hrsg. v. Delfs, Hans. 2370 S., 20 fb. u. zahlr. sw. Abb. 24 x 17 cm. Gb iSch Scheidegger & Spiess, Zürich 2010. EUR 240,00 CHF 350,00
ISBN 978-3-85881-118-9   [Scheidegger & Spiess]
 
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