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Zur Nachahmung empfohlen

"Zur Nachahmung empfohlen!" will dazu ermuntern, die kulturelle und ästhetische Dimension der Nachhaltigkeit mehr in das Bewusstsein der Sinne zu rücken.
Die Publikation will deutlich machen, dass Nachhaltigkeit nicht ohne die Künste und Wissenschaften auskommt: Von ihnen ist das Denken in Übergängen, Provisorien, Modellen und Projekten zu lernen. Die Grenzen zwischen künstlerischer und technischer Kreativität, zwischen Machbarkeit und Idee werden hierbei aufgehoben.
Das Werk besteht aus zwei Paperback-Bänden, einem Lesebuch und einem Katalog, einer Bauanleitung und einem Entwurf für einen „Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit“ von Adrienne Goehler und Jaana Prüss. Eingewickelt und mit Bändchen zusammengehalten sind die Bände in textilem und damit nachhaltigem Alt-Material.
Das Lesebuch enthält zahlreiche Aufsätze. Zum einen wird der Leser mit drei Angeboten aufgefordert: „Weg mit dem alten Denken“. Daraufhin folgen drei Gruselzahlenspiele über die Bedrohung des Klimas sowie der Wasser- und Nahrungsreserven. Anschließend heißt es: „Her mit dem neuen Denken! Wo unter anderem gefordert wird, dass die Kunst eine radikale Kraft werden solle. Unter der Überschrift „Wer muss die Welt retten? sind dann die Politik, die Verbraucher und die Landwirtschaft gefordert und ein indisches Projekt erklärt, wie die Nahrungsmittelkrise mit nachhaltigen Sammelsystemen bewältigt werden kann. Wenn auf diese Weise schon mal rein theoretisch die Welt gerettet werden könnte, kommt es anschließend zum Schwur, dem: „Handeln!“ Da heißt es „Hässlichkeit hinnehmen“, sprich Brachen in der Stadt als Zeugen ästhetischer Nachhaltigkeit. Es folgt die Aussage, dass „Gebäude Partner ihrer Bewohner“ seien. Unter dieser Überschrift führen Peter Sloterdijk und der Kurator Lukas Feireiss ein überaus kluges Gespräch über die Herausforderungen nachhaltiger Architektur, wobei die Frage offen bleibt, wer denn den ewig gleichen profitmaximierten Fertigteilversatzstücken handelsüblicher Architekturen endlich den Garaus macht. Im weiteren Angebot sind neuerliche Baustoffe, die durchaus dazu beitragen könnten (das nächste Kapitel) ebenso wie eine dezentralisierte ökologische Stromversorgung (ein weiteres Kapitel). Dann folgt ein gewaltiger Sprung. Unter dem Zitat „In diesem System hat jeder Angst, dass er abrutscht“ referiert der Soziologe Hartmut Rosa über den Beschleunigungsdruck der Moderne und die Taliban als Alternative. Am Ende stellt Rosa fest, dass er zwar darüber nachdächte, aus dem System auszusteigen, aber dann wäre er nicht mehr Wissenschaftler. „In einem Hamsterrad kann ich nicht langsam laufen, ich kann nur herausspringen“. So ist es!
Und weil das mit dem Herausspringen eben nicht klappt, folgen am Ende noch einige Mobilitätskonzepte in einer veränderten Energie- und Ressourcenlandschaft. Und ganz am Ende des „Lesebuches“ noch Ratschläge zum Thema Müll, den es eigentlich gar nicht gibt, welchen Fisch man einkaufen sollte und ein Quallenrezept. Guten Appetit!
Nach den vielen Anregungen im Lesebuch, die trotz meiner etwas zynischen Beschreibung durchaus lesenswert und anregend sind, aber halt Visionen bleiben, ist der Katalogteil mit seinen zahlreichen künstlerischen Positionen zum Thema Nachhaltigkeit ein reines Vergnügen, auch wenn die dort vorgestellten Objekte und Ideen „nur“ Anregungen sein können. Manche weisen in eine bessere Zukunft, andere bilden ab, was wir inzwischen richtig versaut haben (Verrat an der Natur).
Die über 40 Positionen aus Kunst, Design, Architektur und technischen Erfindungen reichen von Objekten aus Recyclingprodukten über ein Projekt, das paradoxerweise bedürftigen Europäern Patenfamilien in Afrika oder Asien vermittelt, bis hin zu einer schwimmenden Insel, auf der durch körperliche Betätigung sauberes Wasser erzeugt wird.
Leider nachhaltig ärgerlich ist in allen Bänden die blasse und häufig auch zu kleine Schrift.
Zu hoffen bleibt, dass Umweltminister Röttgen (Grußwort) das von ihm gepriesene Projekt auch nachhaltig fördert, und die künstlerischen Vorschläge nicht als interessantes Produkt einer interessanten Ausstellung den Lobbyisten der Wirtschaft allzu schnell wieder geopfert werden.
Denn wie heißt es eingangs im Buchbegleittext des Verlages: „Wir brauchen Visionen eines zukunftsfähigen Lebens, die sich mit Sinnlichkeit, Lust und Leidenschaft des eigenen Handelns verbinden.“ Das gilt für jeden einzelnen, aber besonders für die Politik.

Ausstellungen: Zehntspeicher, Quarnstedt, Gartow bis 13.3.2011. Im Anschluss: Umweltbundesamt Dessau | Westwendischer Kunstverein | Neuer Kunstverein Pfaffenhofen | Städtische Galerie Neuburg an der Donau | Kunstverein Ingolstadt | Und weitere Stationen
Gabriele Klempert
Zur Nachahmung empfohlen! Expeditionen in Ästhetik und Nachhaltigkeit. Beiträge: Welzer, Harald. Hrsg. Goehler, Adrienne. Text: Dürr, Hans-Peter; Goehler, Adrienne; Grober, Ulrich; Kaiser, Gregor; Lippe, Rudolf zur; Ruby, Sigrid. Vito Avantario im Gespräch mit Harald Welzer, Gestaltung von anschlaege.de. Dtsch/Engl. 416 S., 210 meist fb. Abb., eine Bauanleitung. 27 x 21 cm, Gb., Hatje Cantz, Ostfildern 2010. EUR 48,00 CHF 67,90
ISBN 978-3-7757-2772-3
 
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