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Das Seelenpostbuch

Der eine ist heute der weltberühmte Bauhaus-Künstler, der andere bis heute über sein Heimatland hinaus kaum bekannt. Oskar Schlemmer (1888–1943) und Otto Meyer (1885–1933) waren zwei Seelenverwandte. Sie lernten sich 1907 an der Stuttgarter Kunstakademie kennen und blieben bis zum frühen Tod Meyers in engem Austausch. Auf den Punkt gebracht: Die Kunst Schlemmers ist ohne die Freundschaft und die künstlerischen Anregungen Meyers nicht vorstellbar. Dennoch ist der Schweizer, den man heute nach seinem langjährigen Wohnort als Meyer-Amden kennt, der sich selbst aber immer ohne diesen Zusatz nannte, bis heute kaum mehr als eine Fußnote in der Biographie seines Freundes. Dabei hat er schon vor 1914 Schlemmer – und auch seinem zweiten langjährigen Freund aus Stuttgarter Zeit, Willi Baumeister – den Weg in eine stilisierend, abstrahierende Darstellung der menschlichen Figur gewiesen.
Zwischen Schlemmer und Meyer war es eine Art Liebe auf den ersten Blick, die nach vorsichtigen homoerotischen Avancen zeitlebens eine besonders vertrauensvolle Verbindung blieb. Für beide war sie eine intellektuelle Lebensader. Fast 600 Briefen aus fast 25 Jahren zeugen von diesem Austausch und geben einen faszinierenden Einblick ins Künstlerwerden, in die Überlegungen, was es bedeutet, ein Künstler zu sein und in den Willen eine neue Kunst zu begründen. Schlemmer der mit viel Anstrengung erfolgreiche Künstler wie auch Familienmensch und Meyer der sich zum Außenseiter stilisierende, homosexuelle Eigenbrödler könnten von ihrer Biographie her kaum unterschiedlicher sein. Einig waren sie sich darin, neue Bilder schaffen und zu einem tieferen Verständnis vom Menschsein gelangen zu wollen. Meyers Rhythmisierung der Figur und des gesamten Bildes mit Figurengruppen hielten den Künstler zeitlebens beim traditionellen Tafelbild. Schlemmer entdeckte den Tanz und das Theater für sich. Die Ideen für sein „triadisches Ballett“ legte er in den Briefen erstmals schriftlich nieder. Den Traum vom raumfüllenden Wandbild konnte sich Schlemmer wiederholt erfüllen, für Meyer blieb es beim Traum von der großen Form und die Mehrzahl seiner Bilder ist gerade einmal handtellergroß. Die Wirkung der Farben und vor allem natürlich was die zahlreichen anderen Avantgardisten um sie herum an Ideen entwickelten, sind ebenfalls intensive Themenfelder der gegenseitigen Berichte. Schlemmer versuchte immer wieder den Freund aus seiner Selbstisolation zu holen. Für eine Ausstellung Meyers, die er in seiner Breslauer Zeit initiierte, diskutierten sie ausführlich die Präsentation und den Text, den Schlemmer dazu schrieb und der bis heute eine hervorragende Einführung in Meyers Werk ist. Er nahm dezidiert Partei für einen Künstler, der sich weniger wegen seiner Abstraktion als wegen seiner Vorlieben für Knaben und Knabenakte heftigen Anfeindungen ausgesetzt sah. Meyer-Amden ging es hingegen – wie Schlemmer – um eine sozusagen vom Physischen befreite Körperlichkeit.
Auf Grund der wirtschaftlichen Umstände der Zeit trafen sich die beiden Freunde nach dem Studium nur siebenmal persönlich, wobei Schlemmers Aufenthalte in der Schweiz meist intensiv waren. So nah sie sich waren, blieben beide doch bis zuletzt beim höflichen „Sie“, in dem für den Leser heute auch der gegenseitige Respekt voreinander spürbar wird. Die ausführlichen Briefe, in denen sich beide auch die Zeit nahmen erst zum Thema zu kommen, in denen das Alltägliche abgearbeitet wurde, um zum Grundsätzlichen zu kommen, hielten den Dialog trotz der wenigen Kontakte am Leben. Sie bieten damit heute einen außergewöhnlich intensiven Einblick. Der letzte Brief ist Schlemmers Schreiben an einen Verstorbenen. Ein halbes Jahr nach dem Tod des Freundes setzte er den fiktiven Brief auf und lauscht dem Nachhall des jahrelangen Zwiegesprächs, das nun ein Monolog war. Kurz nach Meyers Tod war Schlemmer selbst entlassen und in die Sackgasse der Ächtung durch die Nazis geraten – ein trauriges Ende einer Geistesverwandtschaft voll utopischem Elan und ein von der deutschen Geschichte überschattetes Ende. Oskar Schlemmer waren die Briefe seines Freundes ein Schatz, den er mit Meyers Erben sofort gesichert und für eine Publikation vorgesehen hat. Daraus wurde nichts und die Briefe waren nur in Auszügen in den Publikationen zu den beiden Künstlern jeweils getrennt bislang öffentlich. Sie nun zusammenzuführen und die programmatischen Überlegungen der beiden in den Zusammenhang des intensiven schriftlichen Gesprächs zu setzen ist eine kleine Sensation in der Geschichte der Moderne, in der man gelegentlich den Eindruck bekommen kann, es gäbe überhaupt nichts mehr zu entdecken. Die Herausgeberinnen, Magdalena Droste, die ausgewiesene Kennerin der Bauhaus-Geschichte, und Elisa Tamaschke, die gerade im gleichen Verlag ihre Dissertation zu Otto Meyer-Amden publizieren konnte, haben die Briefe in ihrer originalen Diktion belassen. Da muss man sich erst einmal einlesen. Doch das beschert einem einen einmaligen „O-Ton“ von zwei Menschen, die sich auch darin einig waren, mit der Sprache zu spielen. Die Einführungen in die biographisch begründeten Zeitabschnitte der Edition sind kenntnisreich und steigern die Freude, sich in die Briefe zu vertiefen. Deren Kommentierung war unbedingt notwendig und ist entsprechend hilfreich. Wieder einmal hat der Nimbus-Verlag aus einem Mammutprojekt – 1.900 Seiten – ein ebenso sorgfältig gestaltetes wie schön gedrucktes Bücherpaket gemacht, das mit seinen umfassenden Registern auch ein praktisches Nachschlagewerk bleiben wird. Dank seiner durchdachten, reichhaltigen Bebilderung ist es zu dem eine Art Doppelmonographie zum Werk beider Künstler geworden, die man am besten gar nicht mehr getrennt betrachten sollte.

02.03.2021
Andreas Strobl
Das Seelenpostbuch. Der Briefwechsel 1909-1933. Schlemmer, Oskar; Meyer-Amden, Otto. Hrsg.: Droste, Magdalena; Tamaschke, Elisa. Deutsch. 1824 S. 24 x 17 cm. Nimbus Verlag, Wädenswil CH 2021 EUR 148,00. CHF 168,00
ISBN 978-3-03850-061-2
 
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