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Klassizismus in der Moderne 1920–1960

Die Antike als Vorbild für die neue deutsche, nationalsozialistische Kunst, verargumentiert durch eine vermeintliche rassische Bindung von germanischem und griechischem Volk – als den Ursprung allen Klassischen. Unter Zurechtbiegen einer ideologisch passenden Vergangenheit wurde diese kulturpolitische Forderung 1934 von Hitler an die von nun als staatstragend proklamierte Kunst formuliert. Der Zwang zur radikalen Abkehr von sämtlichen Avantgardestilen hin zu klassischen Idealen mündete dabei in einer Form von Klassizismus, dessen Pervertierung und politische Funktionalisierung seitdem jeglichen klassizistischen Elementen einen derart ambivalenten, politisch verdächtigen Beigeschmack hinzugefügt haben, dass nach Ende der NS-Schreckensherrschaft eine künstlerische Neuorientierung mittels Rückbezug auf die klassische Tradition für deutsche Künstler*innen kaum noch in Frage kam.
Dabei hatten sich die Klassik und der Klassizismus der Goethe-Zeit in Reaktion auf die Katastrophe des Ersten Weltkriegs bereits schon einmal als geeignetes Mittel der künstlerischen Krisenbewältigung erwiesen. Von der Kunstgeschichte bisher vor allem in Bezug auf Frankreich und Italien untersucht, nimmt die Publikation Christian Drobes dieses Phänomen klassizistischer Tendenzen in der deutschen Moderne erstmals explizit in den Blick. Die gleichzeitige Dissertationsschrift des an der Brünner Masaryk-Universität forschenden Kunsthistorikers betrachtet dabei die Entwicklung vom Entstehen einer neuen Klassizismus-Rezeption in der jungen Weimarer Republik über ihre nationalsozialistische Korrumpierung bis hin zu ihrem Versanden in den Nachkriegsjahren. Basierend auf der Annahme des geschichtsphilosophischen Paradigmas von Erwiderung und Widerruf, fußt die Arbeit auf der These, dass selbst die Moderne – obwohl ihr Gründungsmythos vom absoluten Traditionsbruchs einen Rückbezug gewissermaßen verbiete – sich nichtsdestotrotz auf das Klassische beziehe. Unter Hinzuzug historischer Vor- und Rücksprünge legt Drobe die Vielfalt klassizistischer Rückgriffe in zahlreichen, ausführlichen Einzelanalysen offen. Dass er sich hierbei nicht nur auf die Kunst beschränkt, sondern angrenzende ideen-, literatur-, philosophiegeschichtliche Diskurse mit aufgreift, verdeutlicht das Ausmaß.
Zu Beginn der 1920er Jahre, als der Expressionismus als dominierender Stil langsam verebbte, ist eine merkliche Häufung klassizistischer Tendenzen in Deutschland zu beobachten. Auftakt von Drobes Untersuchung bilden dabei die drei Münchner Maler Georg Schrimpf, Carlo Mense und Alexander Kanoldt, wobei der Autor ihre Annäherungen an die klassische Tradition mehr als anachronistische Versatzstücke und weniger als ein abgeschlossenes System analysiert. Dieses Vorgehen beobachtet er auch außerhalb der traditionsverbundenen bayerischen Kunststadt, und zwar sowohl in den Kunstwerken selbst, als auch im ideengeschichtlichen, philosophischen Diskurs. Interessanterweise entpuppt sich die Idee eines Klassizismus als ganzheitlicher Nachfolgestil des Expressionismus so vor allem als Phänomen der Kunstkritik, welche künstlerische Entwicklungen mit einem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Ruhe, Stabilisierung und Ordnung verknüpfte und so zur künstlerischen Krisenbewältigung stilisierte. Allen voran Franz Roh begründete dies mit einem Rückbezug auf klassische Ideale und sprach der Goethezeit so eine Überzeitlichkeit zu, die an ihrer Übertragung auf die Realität der 1920er Jahre jedoch scheitern musste. Drobe fragt zurecht, welche Orientierungsrolle die humanistischen Vorstellungen um 1800 für die industrialisierte, moderne Gesellschaft der 1920er Jahre noch spielen konnten. Und darüber hinaus: Wie konnte der wohlgeformte, makellose Akt der klassischen Kunst gegenüber dem allgegenwärtigen kriegsversehrten Körper überhaupt noch bestehen?
So fand die Fortführung einer klassizistischer Formensprache in den 1930er Jahre vor allem durch den Nationalsozialismus statt, wo die Kunst zum ideologischen Funktionsträger wurde. Durch seine Verknüpfung mit der nationalsozialistischen Rassentheorie wurde der Klassizismus politisch sowie ideologisch aufgeladen. Mit der Monumentalisierung und Idealisierung des klassischen Akts wurde dieser zum Symbol eines wiedererstarkenden deutschen Volkes. Das verunmöglichte allen nicht regimekonformen Künstler*innen auf formaler Ebene eine eigene Form der Klassikrezeption. Wie Drobe ausführlich nachzeichnet, ist eine Kontinuität traditionsbezogener Kunst, bei welcher der Mensch im Mittelpunkt steht, trotzdem zu erkennen. Allerdings orientierten sich diese Werke eher an antiklassizistischen Stiltendenzen, etwa der Romantik. Weiter beobachtet der Autor einen gewandelten Umgang mit klassischen Inhalten: Hatten Künstler*innen während der Weimarer Jahre mythologische und antike Bildthemen weitestgehend ausgespart, wurden mythologische Erzählungen wie die des Prometheus oder Motive antiker Ruinenarchitekturen insbesondere während der Kriegsjahre nun zum Vehikel, die Schrecken der eigenen Gegenwart begreiflich zu machen. Besonders am Beispiel Max Beckmanns wird diese Entwicklung für Lesende besonders deutlich.
Nach Kriegsende beobachtet Drobe eine Fortsetzung dieser Form von Klassizismus-Rezeption. So boten auch nach 1945 mythologische Motive deutschen Künstler*innen Möglichkeiten zur Wirklichkeitsverarbeitung, wie etwa die Orpheus-Erzählung für Werner Gilles oder Karl Hofer. Allgemein nahmen klassizistischen Gesten mit der Durchsetzung der Abstraktion jedoch nur noch wenig Raum im Kunstgeschehen ein. Hauptsächlich in der DDR lebten sie noch eine Weile fort. In der BRD war eine politisch unverdächtige Rückkehr zu einer klassizistischen Formensprache allerdings unmöglich geworden. Konnte die Kultur- und Bildungspolitik durchaus noch an klassisch-humanistische Ideale anknüpfen, so hatte der Klassizismus für die bildende Kunst durch den Nationalsozialismus seinen normativen Geltungsanspruch endgültig verloren. Doch, so lässt sich die Publikation Drobes vielleicht lesen, war dieser auch vor 1933 schon längst nicht mehr gegeben. Wie das Buch in beeindruckender Ausführlichkeit beschreibt, hatte sich ein ganzheitlicher Klassizismus auch in der Weimarer Republik nicht mehr ausgebildet. Stattdessen wurden seine Inhalte zu Versatzstücken, die mal chiffrenhaft, mal fragmentarisch, mal voluntaristisch überformt als Mittel künstlerischer Auseinandersetzung mit der klassischen Form aufgegriffen wurden.
Vermutlich liegt hierin auch der Grund, wieso sich Drobes Erläuterungen für Lesende bisweilen im Detail der einzelnen Analysen verlieren zu scheinen. Der enorme Umfang, in welchem der Autor den modernen Klassizismus in der Kunstgeschichte und ihren umliegenden Diskursen verortet, mag einen an mancher Stelle tatsächlich an die eigenen gedanklichen Aufnahmegrenzen bringen. Wer aber nach einem profunden Überblick über die Vielfalt klassizistischer Phänomene in der deutschen Moderne sucht, ist mit Drobes Buch mehr als nur bestens bedient.

05.08.2022
Valentina Bay
Verdächtige Ambivalenz. Klassizismus in der Moderne 1920–1960. Drobe, Christian. Deutsch. 416 S. 39 fb. Abb., 26,5 x 21 cm. VDG Weimar - Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften . 99510 Ilmtal-Weinstraße 2022. EUR 68,00.
ISBN 978-3-89739-958-7
 
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