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Aufbruch oder Krise?

Eine Geschichte des Kunsthandels nach 1945 und in der frühen Bundesrepublik gibt es bislang nicht. Dabei ist durch die Diskussionen über die Frühzeit der documenta und die Herausbildung eines Kanons der Nachkriegsmoderne längst deutlich geworden, wie viele offene Fragen es gibt: Wie gelang der Anschluss an die durch die Nationalsozialisten verdrängte und verfemte Moderne? Wer waren die Protagonistinnen und Protagonisten eines Neubeginns? Was wurde gezeigt und was wurde gehandelt in den ersten Jahren der Reeducation? Wann und wie konfigurierte sich ein neuer Kunstmarkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs?
Der Hunger nach einer Gegenwelt zu der völkischen Kunstdoktrin des Nationalsozialismus und einer Alternative zur Realität der Trümmerlandschaften war offenbar groß: Schon 1945 eröffneten in Berlin, Düsseldorf, Hamburg und Köln erste Kunstgalerien. Zu den legendären Pionieren des Nachkriegskunstmarkts gehörte die Galerie Gerd Rosen, die schon im August 1945 auf dem Berliner Kurfürstendamm ihre Tore öffnete und surrealistische und ungegenständliche Positionen zeigte. Die Galerie Rosen ist zugleich eine der wenigen, zu der bereits eine monografische Studie vorliegt (von Markus Krause, 1995). Eine Dissertation des Kunsthistorikers und -sachverständigen Ingo Brunzlow bettet die Geschichte dieser Galerie nun in eine verdienstvolle Kunst- und Kulturgeschichte des Aufbruchs „privater Kunstgalerien in West-Berlin zwischen Kriegsende und Mauerbau“ ein.
Die materialreiche, durch Register exzellent erschlossene Untersuchung stellt dabei 13 Kunsthandlungen in den Mittelpunkt, die sich nach Kriegsende in Berlin der Vermittlung und langsamen Etablierung der Moderne verschrieben und bietet damit eine Fülle neuer Erkenntnisse und Entdeckungen: So geraten u.a. die Galerien Bremer, Buchhandlung und Antiquariat Wasmuth, die Galerie Meta Nierendorf, die Galerie Elfriede Wirnitzer und die Galerie am Abend in den Blick, die durchweg zunächst von Frauen geleitet wurden: eine kurz nach dem Krieg gleichsam logische wie vergessene Folge des Krieges und ein faszinierender Aspekt der Kunsthandelsgeschichte und -soziologie. Zu den Entdeckungen der Studie von Brunzlow gehört auch, dass sich der Kunsthandel der Moderne bis zur Gründung der DDR und bis zum Mauerbau natürlich nicht auf West-Berlin beschränkte, sondern – mit der Bücherei Lowinsky in der Prenzlauer Allee – auch im Ostteil der Stadt seine Orte fand.
Nicht zuletzt durch das – auf Vollständigkeit angelegte und in keiner anderen Publikation zu findende – Verzeichnis der Ausstellungen Berliner Galerien der Jahre 1945 bis 1961 bildet die Neuerscheinung einen unverzichtbaren Bestandteil einer Kunst- und Kulturgeschichte der Nachkriegszeit. Bleibt zu wünschen, dass ähnliche Studien zu weiteren Regionen des kulturellen Neubeginns folgen werden.

03.11.2022
Rainer Stamm
Aufbruch oder Krise? Private Kunstgalerien in West-Berlin zwischen Kriegsende und Mauerbau (1945–1961). Brunzlow, Ingo. Deutsch. 606 S. 21,0 x 14,8 cm. Kovac, Dr. Verlag Hamburg, 2021. EUR 149,80.
ISBN 978-3-339-12488-3
 
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