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BILD und ZEIT – Eine Theorie des Bildbetrachtens

Ein Schwerpunkt des Jenaer Kunstgeschichtsprofessors Johannes Grave - Gottfried Wilhelm Leibniz-Preisträger 2020 - gilt der Erforschung eines Themenkomplexes, der in der Kunstgeschichte seit langem unter der Bezeichnung "Zeit im Bild" firmierte. Der Anspruch des Autors ist hier jedoch ein ungleich höherer. Der Titel "Bild u n d Zeit" verweist auf die Tatsache, dass Grave beide Begriffe als eigenständige Größen mit jeweils eigenständigen Theoriesträngen konzipiert und er dabei permanent mehrere Register gleichzeitig zieht und seine Darstellung dadurch hochgradig dynamisiert. In den ersten neun Kapiteln unternimmt er nichts Geringeres als eine problemorientierte Einführung in die Wissenschaftsgeschichte der genuin kunstwissenschaftlichen Temporalitätskonzepte einerseits und divergierende Bildkonzepte andererseits. Grave versucht dabei vor allem Erfahrung der Rezeptionsästhetik Wolfgang Kemps mit bereits existierenden (und auch von ihm präferierten) phänomenologischen Bildtheorien zu synthetisieren.

Im Mittelpunkt steht dabei die Leitidee, die Momente und Eigenzeiten zu ermitteln, die im Akt der Erfahrung am und im ästhetischen Objekt realisiert werden können. Graves sorgfältig strukturiertes Buch fordert den Lesenden dabei einiges an aktivem Mitdenken ab. Dass beispielsweise "bildliche Strukturen durch die Betrachter darauf angewiesen sind im Akt der Bildbetrachtung aktualisiert zu werden" ist dabei noch eine vergleichsweise verständliche Formulierung. Wenn es allerdings beispielsweise um die "Emergenz von Formen und deren Relationen" geht und dabei die Aufmerksamkeit des einzelnen Betrachtenden zwischen dem bildlich Dargestellten und den Darstellungsmitteln wechseln könne, dann erkennen die hier Mitlesenden, dass der Autor seinen Konsumenten nicht die Anstrengung des Reflektierens und Verstehenwollens ersparen will, die ihm sein Projekt sicher abverlangt hat. Zu den Stärken des Bandes gehört die sorgsam abwägende Betrachtungsweise anderer Zugangsweisen zum Bild wie sie etwa von Horst Bredekamp und Mikel Dufrenne vorgelegt wurden. Vermisst hat der Rezensent die Thematisierung von spezifischen Temporalitätsvorstellungen jüngerer visueller Medien, die heute in starker Konkurrenz zu gemalten Bildern des Mediums Kunst auftreten: vor allem die spezifische Augenblickserfahrung des Fotografischen (Roland Barthes einflussreiche Erfindung der augenblicklich zustoßenden Erfahrung des "Punctums" wird nur in ein, zwei Sätzen erwähnt) und vor allem der Social Media, die bekanntlich ein ganz eigenes Präsenz- und Aufmerksamkeitsregime etabliert haben. In welcherweise Bilderfahrungen zwischen den drei Zeithorizonten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hin und her oszillieren, wird von Greve nur in einem kurzen Kapitel angedeutet; hier hätten sich kürzere Ausflüge in systemtheoretische Temporalitätskonzepte etwa eines Niklas Luhmann sehr gut angeboten. Auch die spannende Verbindung zwischen temporalen Aktivitäten und Kreativität hätte zumindest andeutungsweise gelohnt, erwähnt zu werden.

Grave hat sich dagegen sehr bewusst auf die streng kunstwissenschaftliche Temporalitäts- und Bilddiskussion beschränkt. Wer als Lesender geduldig und neugierig deren verzweigte und anregend erzählte Theorielandschaft durchwandert hat, der ahnt, wie sein Autor hier komplexe Zusammenhänge erhellt und aktualisiert hat, um die komplexen Potentialitäten seiner ästhetischen Objekte im Laufe ihrer eigenen Zeiten auszuloten.

03.12.2022
Michael Kröger
Bild und Zeit. Eine Theorie des Bildbetrachtens. Grave, Johannes. Deutsch. 270 S. 26 Abb. 21,7 x 13,9 cm. Gb. C.H. Beck Verlag, München 2022. EUR 28,00.
ISBN 978-3-406-78045-5   [C. H. Beck]
 
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