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Julius Meier-Graefe – Kunst, Kulissen, Ketzereien.

Die Denkwürdigkeiten eines Enthusiasten haben dieser Tage gleich zwei unserer Rezensenten begeistert, sodass wir heute beiderlei Texte für Sie veröffentlichen.

Hier zunächst Rainer Stamm:

Julius Meier-Graefe rückwärts
Julius Meier-Graefe (1867-1935) verkörpert den (fast vergessenen) Beruf des „Kunstschriftstellers“ par excellence: Mit seiner erstmals 1904 erschienenen „Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst“ hat er sich in den Olymp und Kanon der Kunstgeschichte eingeschrieben und der Akzeptanz der für uns heute ‚klassischen‘, insbesondere französischen Moderne damit entscheidend den Weg geebnet. Im Gegensatz zu vielen anderen Kunsthistorikern seiner Generation ist es um Julius Meier-Graefe bis heute nicht still geworden, nicht zuletzt da die deutsch-französische Publizistin Catherine Krahmer die Erinnerung an den großen Vermittler der modernen Kunst zu ihrem Lebenswerk gemacht hat: Im Göttinger Wallstein-Verlag gab sie 2001 eine Auswahl an „Briefen und Dokumenten“ Meier-Graefes heraus, 2009 erschien eine Auswahl aus seinen Tagebüchern und zuletzt 2021 Krahmers monumentale Biografie des Kunsthistorikers.
Die Lektüre seiner Texte geriet dabei – trotz aller Bemühungen – fast in Vergessenheit, die seiner zahlreichen Feuilletons zur zeitgenössischen Kunst allemal. Dem schafft der Verleger und bekennende Meier-Graefe-Enthusiast Bernhard Echte nun Abhilfe, indem er Meier-Graefes Beiträge zur Moderne quasi im Rückspiegel präsentiert: Der Anfang wird hier nicht mit der legendären Entwicklungsgeschichte gemacht, sondern eine Auswahl seiner Texte chronologisch rückwärts präsentiert: beginnend mit einem im Januar 1933 und somit zwei Jahre vor dem Tod Meier-Graefes in der „Frankfurter Zeitung“ erschienenen Text über Balthus – und zurückreichend bis zu einem Bericht über die Pariser Weltausstellung des Jahres 1900. Die Präsentation der Auswahl verführt somit diesen Kunstgriff unmittelbar zur Lektüre, da sich die uns am wenigsten fernliegenden Themen dadurch als Einstieg in das feuilletonistische Werk Meier-Graefes anbieten und zum „Rückweg“ an den Beginn des Jahrhunderts einladen.
Die Entdeckungen auf dieser Lektürereise sind naturgemäß vielfältig. Um nur zwei zu erwähnen: Selbst den Spezialisten weitgehend unbekannt dürfte der Bericht über den Besuch des durch Ernst Gosebruch neu arrangierten Museums Folkwang in Essen aus dem „Berliner Tageblatt“ 1929 sein. Meier-Graefe kannte den Nukleus der von Karl Ernst Osthaus aufgebauten Sammlung noch aus Hagen, doch die Wiederbegegnung und Erweiterung der Kollektion beschreibt er in Form einer lesenswerten Groteske, die die Einzigartigkeit dieser Sammlung am Rande einer Ruhrgebietsstadt aus rauchenden Schloten erinnert.
Mit welchen preziösen Zeitkapseln es der Leser bei der Lektüre zuweilen zu tun hat, geht auch aus der indirekten „Erinnerung an van Gogh“ hervor, die Meier-Graefe 1914 veröffentlicht hat. Hier erzählt er von seiner Begegnung mit einem der bekanntesten Modelle des Malers, der „Arlésienne“, die er einst im südfranzösischen Arles auf der Straße traf und die sich freundlich an den eigenartigen „Monsieur Vincent“ erinnerte, dessen merkwürdigen Bilder sie nach dessen Wegzug jedoch fortgeworfen habe. An solchen Stellen liest sich Kunstgeschichte als „Kunstschriftstellerei“ im besten Sinne.
Wie immer im Nimbus-Verlag sind die präsentieren Texte exzellent kommentiert und ist das Buch gestalterisch eine Freude. Der lesehungrig Gewordene vermisst lediglich eine Bibliographie, durch die sich weitere vergessene Feuilletons Meier-Graefes aufspüren und die Auswahl der Texte besser nachvollziehen lassen würden.

02.02.2023

Andreas Strobl:

Erfrischende Nachrichten von gestern

Wozu alte Kunstkritiken lesen? Es ist doch bekanntlich nichts älter als die Zeitung von gestern und die Kunstwissenschaft hat über länger zurückliegende Dinge sicherlich mehr zu sagen, als jemand, der nur aus dem Kenntnisstand seiner Zeit zu urteilen vermag. Genau dieser Kenntnisstand kann aber einen Eindruck davon geben, was über einen Künstler bekannt war und was seine Zeitgenossen über seine Werke gedacht haben, was sie begeistert hat oder worüber sie sich gewundert haben. Und dieser Eindruck kann dem heutigen Leser und Betrachter den vom historischen Wissen verstellten Blick wieder frei räumen. Wenn ein Kritiker dann zu den wachen und im Kopf beweglichen Zeitgenossen zählt – was sicherlich nicht für alle Kunstkritiker galt und gilt – dann kann der lang zurückliegende Blick auf die Dinge und Geschehnisse ausgesprochen erfrischend sein.
Julius Meier-Graefe (1867–1935) zählte sicherlich zu den am besten informierten Beobachtern der zeitgenössischen Kunst seiner Tage. Nach einem abgebrochenen Studium kam der junge angehende Schriftsteller, der bereits früh einen Roman publiziert hatte, Anfang der 1890er Jahre nach Berlin und fand in dem Kreis der Literaten und Künstler, zu dem auch der Norweger Edvard Munch zählte, schnell Anschluss an die wachsten und provokativsten Köpfe seiner Zeit. Dann wechselte er in die Kunstmetropole schlechthin, nach Paris, und wurde von dort aus zum deutschen „Propagandisten“ der Nachimpressionisten von Paul Cézanne über Vincent van Gogh, Paul Gauguin bis hin zu Henri de Toulouse-Lautrec. Gleichzeitig versuchte er sich als Händler dieser Kunst und des Jugendstils, womit er wirtschaftlich grandios scheiterte. Nachdem er damit sein Erbe erfolgreich aufgebraucht hatte, musste er den Rest seines Lebens ebenso erfolgreich vom Zeilengeld leben.
In die Geschichte eingegangen ist er mit seinen Monographien zu den genannten Künstlern, mit dem ersten und bis heute gültigen Werkverzeichnis zum Zeichner und Maler Hans von Marées und vor allem mit der ersten „Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst“, die er ab 1904 publizierte und damit einen Kanon festschrieb, der sich bis heute gehalten hat. Doch die vorliegende, wie immer beim Nimbus-Verlag schön gestaltete und qualitätsvoll gedruckte Auswahl seiner Texte greift nicht auf seine Bücher, sondern auf seine verstreuten, in Tageszeitungen und Kunstzeitschriften veröffentlichten Texte zurück. Viele Ideen, die in Meier-Graefes Bücher einflossen, wurden hier erstmals publiziert und es herrscht ein ebenso flotter wie provokativer, im besten Sinne feuilletonistischer Ton, den er für die Bücher später oft geglättet hat. Die Polemik war Meier-Graefe nicht fremd und so manches Mal fühlt man sich an einen anderen spitzzüngigen Feuilletonisten dieser Zeit erinnert, den heute in breiteren Kreisen bekannten Kurt Tucholsky. Das Buch ist nicht chronologisch aufgebaut, sondern nach Themen gegliedert, was eine abwechslungsreiche Lektüre bietet. Da es zahlreiche Anspielungen in diesen Texten gibt, wurde das Buch vom Herausgeber – und Verleger – Bernhard Echte nicht nur mit Abbildungen und einem Nachwort, sondern auch mit kenntnisreichen Anmerkungen versehen, die immer wieder kleine Einführungen ganzer Bereiche des damaligen Kunstbetriebs geben. Der Name der Reihe des Nimbus Verlags, in der das Buch erschien, trifft den Nagel auf den Kopf, „Unbegrenzt haltbar“.
Es ist erstaunlich, wie sehr Meier-Graefes Blick eines wachen Zeitgenossen auch uns heutige Leser noch und wieder elektrisieren und zum Nachdenken anregen kann. So mag ihm selbst das letzte, in typischer Weise zwischen Überheblichkeit, Pathos und Herzblut schwebende Wort gewährt sein: „In unserer Zeit sind große Künstler letzte Heroen, deren Ziele nicht beanstandet werden können. Kunstschriftsteller solcher Geschichten avancieren zu Handlangern der Menschheit.“

02.02.2023
Rainer Stamm und Andreas Strobl
Kunst Kulissen Ketzereien. Denkwürdigkeiten eines Enthusiasten. Meier-Graefe, Julius. Hrsg.: Echte, Bernhard. 320 S . 21,0 x 13,5 cm . Nimbus Verlag, Wädenswil 2021. EUR 32,00. CHF 36,00
ISBN 978-3-03850-078-0
 
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