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Erfundene Kunst

Es gibt Bücher und Projekte, die hätte man - gemeinsam mit Freunden und bei einigen Flaschen Wein - am liebsten selbst ersonnen; so etwa die "Enzyklopädie der unexakten Wissenschaften", die der französische Schriftsteller Raymond Queneau zusammenstellte und schließlich in seinem Roman "Die Kinder des alten Limon" seinem Protagonisten Chambernac in die Hände und auf den Schreibtisch legte.
Oder etwa eine "Enzyklopädie fiktiver Künstler". Doch dazu ist es glücklicherweise zu spät; denn nun gibt es sie bereits und versammelt die phantastischen Biographien imaginärer Künstler. Dazu gehören - ganz wie in der herkömmlichen Kunstgeschichtsschreibung - Prominente ebenso wie Abseitige und Vergessene. Zu den bekanntesten dürfte, neben Basil Hallward, dem Maler des "Bildnisses des Dorian Gray", wohl Frenhofer zählen: "Deutscher Maler. Schüler von Jan Gossaert, genannt Mabuse, von dem er das Geheimnis der Tiefenwirkung lernte." Ebenso wie Hallward fehlte auch er bislang in jedem herkömmlichen Künstlerlexikon, denn er ist eine Erfindung Balzacs und Protagonist der Erzählung vom "Unbekannten Meisterwerk". Frenhofer hat dennoch Cézanne und Picasso inspiriert, obwohl - naturgemäß - bislang keines seiner Werke bekannt ist.
Die feinen Gratwanderungen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, die Überschneidungen zwischen imaginären und 'realen' Biographien machen diese groteske Enzyklopädie fiktiver Künstler so spannend; ebenso wie der schiere Reichtum an Entdeckungen. 39 Enzyklopädisten haben in ihren Bücherschränken und der Primär- wie Sekundärliteratur gewühlt und über 280 Lebens- und Werkläufe zusammengetragen; Haupt- und Nebenfiguren aus Haupt- und Nebenwerken der Weltliteratur. Manche Einträge bleiben schemenhaft und nebulös, manche Biographien auch gänzlich peripher; doch immer wieder finden sich atemberaubende Lebens- und Werkkonzepte, die sich problemlos auch in die 'große' Kunstgeschichte hätten einschreiben können. Da ist zum Beispiel meine Lieblings-Künstlerfiktion Percival Bartlebooth (1900-1975), "ein Außenseiter der Avantgarde", der zwischen 1935 und 1955 fünfhundert Aquarelle in fünfhundert Hafenstädten malte, "die er anschließend auf Holzplatten kleben und in aus jeweils siebenhundertfünfzig Einzelteilen bestehende Puzzles zerlegen ließ. Nach Frankreich zurückgekehrt, wollte er bis 1975 jeweils alle vierzehn Tage ein Puzzle zusammensetzen. Nach einem ausgeklügelten Verfahren sollten die Spuren der Schnittstellen beseitigt, die Bilder wieder von ihrer Unterlage abgelöst und Kontaktmännern in den entsprechenden Seehäfen zugeschickt werden, die das jeweilige Aquarell in eine Reinigungslösung legen sollten, so dass schließlich nur leere weiße Blätter zurückblieben. Es ging Bartlebooth um ein völlig zweckfreies Projekt, das sich in dem Maße, in dem es verwirklicht würde, selbst zerstörte." - Was Bartlebooth an der Vollendung seines Gesamtwerks hinderte, ist nicht nur in Georges Perecs Roman "Das Leben. Gebrauchsanweisung", sondern selbstverständlich auch in der "Enzyklopädie fiktiver Künstler" nachzulesen und wird jeden neugierig machen auf weitere Beschreibungen imaginärer Werke und Konzepte. Überhaupt liegt der Reiz der besten erfundenen Werke darin, daß sie den wirklichen nah wie Geschwister sind und doch durch die Reinheit ihrer Fiktion Gedanken und Fragen der uns geläufigen Kunstwerke bisweilen in großer gedanklicher Klarheit vor Augen treten lassen.
Der fleißigste Künstler-Erfinder war übrigens E.T.A.Hoffmann, der nicht zufällig zu den Doppelbegabungen zählt und selbst als Maler und Karikaturist tätig war.
Zu den jüngst hinzugekommenen Künstlerviten gehört der Surrealist René Dalmann, der von Bernhard Schlink in den "Liebesfluchten" erfunden wurde, doch da der Erzählungsband im selben Jahr der niederländischen Erstausgabe unserer Enzyklopädie erschienen ist, hat er in diese keine Aufnahme mehr gefunden, und so bleibt abzuwarten, ob Dalmann die Halbwertzeit des Vergessens überstehen und die "Enzyklopädie fiktiver Künstler" je eine zweite Auflage erfahren wird.
11.2.2003

Rainer Stamm
Brams, Koen: Erfundene Kunst. Eine Enzyklopädie fiktiver Künstler von 1605 bis heute. 2002. 360 S. 22 cm. Gb EUR[D] 27,50
ISBN 3-8218-4524-4
 
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