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Walter Benjamins Archive

Entrée

Die Arbeiten des Philosophen Walter Benjamin (1892-1940) sind ein kühner Entwurf der Geschichte, der Kunst, des Denkens, der Sprache, der Architektur, des Mythos, der Kindheit, der Technik, ja, der modernen Gesellschaft. Für all diese Arbeiten sammelte er unentwegt Material und fertigte umfangreiche Notizen an, Depot und Steinbruch der Generierung neuer Texte. Sie können in der großen Walter-Benjamin-Ausgabe, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser seit langem rezipiert werden. Als Archiv des 19. Jahrhunderts im übertragenen Sinne besteht es aus Bildern, Texten, Zeichen, als Reservoir für Erfahrungen und Ideen. Benjamin registrierte Typen von Personen wie den Flaneur, Dandy oder den Lumpensammler, Bauformen und Orte, Passagen, Panoramen, Loggien und verwendete Materialien, wie Glas oder Eisen.
Unpubliziert dagegen blieb ein Großteil seiner Notate. Zwar war Benjamin ein leidenschaftlicher Archivar seiner Werke, aber die politische Lage und sein Exil, sein früher Tod, zerstreute sie in halb Europa. Jetzt konnten mehrere Konvolute aus seinem Nachlaß, die aus dem Besitz von Theodor Wiesengrund Adorno, Stefan Benjamin, der Ostberliner Akademie der Künste und aus der Bibliothèque Nationale in Paris stammen, in Berlin in der Akademie der Künste zusammengeführt werden. Das dort angesiedelte Walter-Benjamin-Archiv zeigt nun in der Akademie eine Ausstellung und publizierte als Archiv der Archive einen schönen Katalog mit dem Titel "Walter Benjamins Archive". Sein letztes bleibt sein Geheimnis, ging es doch mit der Aktentasche, die Benjamin bei seiner Flucht über die Pyrenäen bei sich hatte, verloren.

Ins Magazin der Zeit gedrungen

Zettel- und Karteikästen gehörten bis zur digitalen Wende zur Grundvoraussetzung jeder Archivarbeit, die strengen Normierungen unterworfen ist. Handelt es sich um privates Archivieren, so mag jeder sein ganz und gar nicht amtliches Ordnungssystem finden. Einem solchen nicht institutionalisierten Archivbegriff pflegte auch Benjamin. Die Bearbeiter des Katalogs, gleichwohl strenger einem normierenden Vorgehen unterworfen, setzten dies gleichwohl teilweise außer Kraft, in dem sie sich von Benjamins Affinität für die Zahl dreizehn anstecken ließen und das Konvolut in dreizehn Fächer teilten. Auch ohne dass ein Leser mit Benjamins Arbeiten inhaltlich oder formal vertraut ist, entsteht eine Vorstellung von dessen Ideen, Projekten und seinem Schreibprozess, denn Benjamin verstand Systematisieren, Reproduzieren, Exzerpieren, Übertragen und Siglieren als genuin literarisches Arbeiten.
Im Gegensatz zum Katalogisieren in einem Buch, gezeigt werden Register, Verzeichnisse, Karteien, bietet der Gebrauch von Karteikästen den Vorteil eines ständigen Um- und Anbaus mit offenem Ende und ohne Hierarchie. Entsprechend fasziniert war Benjamin von der Idee, die schon Gustave Flaubert mit seinem Wörterbuch der Gemeinplätze anvisierte, eine Arbeit "ganz aus Zitaten" zu schreiben, fasziniert. Mit Jean Pauls Quintus Fixlein, ein Buch, gezogen aus 15 Karteikästen, verbindet er Besichtigung einer Epoche, galt Benjamin das Buch als Biographie eines Zeitabschnitts. Die ersten beiden Kapitel im Katalog präsentierten Benja-min-Archive, widmen sich unter den Überschriften Baum der Sorgfalt und Verzettelte Schreiberei diesen beiden Aspekten. Interessant etwa darin der Hinweis, noch bevor der Vorgang des "Kopierens und Einfügens" beim Computerschreiben technisch möglich wurde, diese Verfahrensweise von ihm erprobt wurde. In der dritten Abteilung trifft man nicht nur auf literarische und philosophische Figuren des Kleinen wie in der Berliner Kindheit um 1900, ein Stück aus lauter aneinander gehefteten Miniaturen, zu der sich an anderer Stelle weitere Kleinstücke wie die Glosse, das Rätsel oder der Aphorismus gesellen, sondern auf seinen graphischen Minimalismus. Er ähnelt im Schriftbild Robert Walsers Mikrologien. Gleich Walser, insbesondere in der äußeren Not des Exils, füllte Benjamin jeden Zentimeter freien Papiers aus. Dafür, hier mußte der Ästhet, der einen Kult um seine Notizbücher machte, sie werden in Kapitel 6 unter Zarteste Quartiere behandelt, hinter den Pragmatiker zurücktreten, er verwendete Zettel aller Art.

Partikel

Benjamin, das ist seit langem bekannt, war ein leidenschaftlicher Sammler. Legendär etwa seine Sammlung von Kinderbüchern. Mehrere Abschnitte im Katalog sind weiteren Sammlungen von Benjamin gewidmet, die sich zum Teil nicht vollständig erhalten haben, bekanntlich ging auch seine Bibliothek verloren. Ganz konkret wird Vergangenes, so auch der Titel, Raumgewordene Vergangenheit, auf Fotografien einiger Pariser Passagen ebenso greifbar wie in Abteilung 7, eine Sammlung von Bildpostkarten mit Motiven von Städten, Gebäuden und Kunstwerken, betitelt mit Reisebilder. Zu Benjamins Sammlung von Kinderbüchern gesellen sich in der Abteilung 4, sie mit Physiognomie der Dingwelt überschrieben, Fotografien von Russischen Spielsachen.

Verrätselungen

Was haben Podott und Affika gemeinsam? Es handelt sich um kreative Wortschöpfungen von Stefan Benjamin, die sein Vater aufzeichnete. Manches wäre für Außenstehende Rätsel geblieben, hätte Benjamin nicht die Wortbedeutung beigefügt, wie Benjamin überhaupt an Sprachspielen, Anagrammen, Rätsel, Sprach- und Denkaufgaben großes Vergnügen hatte, daher der sprechende Titel Knackmandeln.

Schriftbilder

Selbstredend, Benjamin kannte Stephane Mallarmés epochemachendes Werk Un coup de dés jamais n'abolira le hasard (Ein Würfelwurf tilgt niemals den Zufall), die Herausgeber suchten für jedes der dreizehn Archivkapitel einen dazu gehörenden Text aus seinen Gesammelten Schriften. Sehr schön wird das im 9. Kapitel. Bekanntlich wird als erstes visuelles Gedicht der Moderne dieses Werk von Mallarmé angesehen. Sicher ist es richtig, Benjamins Schreiben und Archivieren unter dem Aspekt des graphischen Gestaltens und des Konstellativen zu betrachten. "Graphische Bildlichkeit", so die Herausgeber, bündig "gehört zu den charakteristischen Zügen von Benjamins Schreiben. Verhandelt werden sie in zwei Kapiteln, Bogenspannung (8.) und Konstellationen (9.). Steht im 8. Kapitel der Schreibprozess auf einem Blatt und mit einem Blatt, vielfach zerschnitt er es und fasste Textbausteine, unterschiedlich farblich und symbolisch codiert, zusammen, im Vordergrund, so im darauffolgenden Kapitel die Präsentation des Textes als Element künstlerischer Gestaltung.

Zentralismus

Wenn es einen Text gibt, der geradewegs ins Zentrum von Benjamins Denkens führt, dann die Figur des Lumpensammlers im nicht ausgearbeiteten Passagenwerk. Er ist einer der sich für den Abfall der Geschichte interessiert und das Material interpretiert. Selten verwendet, Benjamin perfektioniert eine induktive Methode, die in der Analyse eines Einzelmoments zugleich, durch Regruppierung, literarische Montage, das Totalgeschehen erfaßt. Dazu legte Benjamin sich ein Alphabet an. Darin ordnete er das heterogene Material nach Stichworten wie Spiegel, Fourier, Marx, Baudelaire, Sammler, Ausstellungswesen, Reklame, Grandville, Konspirationen, Spiel, Eisenbahnen, Müssiggang, Lithographie, Daumier, die Kommune, die Börse, Wirtschaftsgeschichte und unter Z der Automat.

Noch mehr Fundstücke

Auch eine Art Archiv stellt das Adreßbuch dar. Seines ließ Benjamin 1940 bei seiner Flucht aus seiner Pariser Wohnung zurück. Nach langer Reise durch mehrere Länder liegt es jetzt in Berlin im Walter-Benjamin-Archiv. Im Katalog wird es abgebildet, näher analysiert aber in einer weiteren Publikation, die Christine Fischer-Defoy herausgab und mit einer Einleitung versah. Es handelt sich um ein grünes kleines Buch, das Rückschlüsse auf Benjamins Freund- und Bekanntschaften, seinen Verkehr mit Institutionen und Assoziationen unterschiedlicher Art erlaubt. Viele der Genannten, etwa der Zeichner und Regisseur Berthold Bartosch (1893-1968) oder der Schriftsteller Simon Guttmann (1891-1990) sind heute nahezu unbekannt, andere, wie der Schriftsteller und Maler Pierre Klossowski (1905-2001) oder der Schriftsteller Soma Morgenstern (1890-1976) werden gerade wiederentdeckt, andere wiederum, wie die Fotografin Gisèle Freund sind bis heute präsent. Die Herausgeberin hat große Sorgfalt walten lassen und jeden der Eingetragenen mit einer Vita ausgestattet. Damit jedoch nicht genug. Unterbrochen von einigen Fotografien, kommentiert sie die gegenseitigen Beziehungen, gibt weitere Hinweise und kommt auf deren Wirken zu sprechen. Insgesamt entstand, auch durch das gewählte Format eines Adreßbuchs, ein ansprechender Band, der den Katalog trefflich ergänzt. Und welch ein Glück für alle an Benjamin Interessierten, dem Antiquar Herbert Blank in Stuttgart gelang es, Benjamins zerstreute Bibliothek zu versammeln und zu dokumentieren.

Facetten der Benjaminiana

Ein Schwerpunkt im Denken und in den Schriften Walter Benjamins waren jene Veränderungen, die die neuen technischen Medien Film, Rundfunk und Fotografie für Kommunikation und Kunst mit sich brachten. Eine Reihe von Schlüsselbegriffen wie Aura, Reproduzierbarkeit, Gedächtnis, Archiv, Sammlung fand Eingang in künstlerische und kulturwissenschaftliche und kunsthistorische Arbeiten. Ganz offensichtlich ist man in Benjamins Heimatstadt damit beschäftigt, 2004 stellte eine Ausstellung im Haus am Waldsee die künstlerische Auseinandersetzung mit Benjamin und dessen Denken zu Fragen der Kunst in den Mittelpunkt, sein Denken unter diesen Aspekten neu zu positionieren. Die Ausstellung 2004 genügte nicht, jetzt gibt es im Hamburger Bahnhof eine Anschlußveranstaltung zum gleichen Thema. Noch ein Wiedersehen gibt es im Kino Arsenal mit einer Filmreihe zu Benjamin. Gleichzeitig kann man aber auch ins Musiktheater gehen oder zu mehreren Performances, alles Teilstücke eines Benjamin-Festivals (17.10.-22.10.2006), komplettiert durch eine Tagung des Zentrums für Literaturforschung. Es ist schon richtig wie die Presseerklärung verbreitet, "jene Generation und jede Kultur scheint sich ihren Benjamin anzueignen". Die dort Versammelten konstatierten einen Trend in der Benjamin-Rezeption hin zu seinen kulturhistorischen und kulturtheoretischen Schriften und den gedenken sie, durch konsequente Entpolitisierung Benjaminscher Gedanken, auf der Einbahnstraße fortsetzen zu wollen. Mit einer berühmten Formulierung im Kunstwerksaufsatz kann man fragen, ob Benjamin dabei zu seinem Recht komme. Wie unlängst im Briefwechsel mit Gretel Adorno nochmals deutlich wurde, Benjamin zeigt sich, viel mehr als Adorno, an einer Weiterentwicklung des politischen Marxismus interessiert. In der berühmten Passage zum Lumpensammler etwa, das unterlassen die Herausgeber des Katalogs, schwingt natürlich das Marxsche Lumpenproletariat mit und im Passagenwerk radikalisiert er die Entschlüsselung der Warenwelt als mythische Urlandschaft. "Politische Gegenstände" "politisch klarzustellen" war ihm Anliegen, nichts hielt er davon, sie "in ein Gespinst akademischer Floskeln zu wickeln, in dem ihre Ecken und Kanten keinem mehr weh tun." Das hätte Benjamin zum ausgerufenen Trend sagen können, der ohnehin nur als Halb-Part sich zu erkennen gibt. Auch 2004 erschien eine Arbeit zur Politik Benjamins. Über den Katalog, das Adreßbuch und die Dokumentation seiner Bibliothek hätte sich der leidenschaftliche Archivar allerdings gefreut und ein neues Karteikärtchen angelegt.
25.1.2007




Sigrid Gaisreiter
Walter Benjamins Archive. Bilder, Texte und Zeichen. Hrsg. v.Walter Benjamin Archiv. 2006. 243 S. Suhrkamp, Frankfurt 2006. Pb EUR 24,80
ISBN 3-518-41835-1
 
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