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Piktogramme - Die Einsamkeit der Zeichen

Die Zeichen der Zeit stehen auf Bildzeichen. Das Kunstmuseum Stuttgart beschäftigt sich in einer Ausstellung (4.11.2006-25.2.2007) mit der Verwendung dieser Bildsprache in der Kunst des 20. Jahrhunderts und der Gegenwartskunst. Dazu liegt ein schöner Katalog vor, der die Ausstellung dokumentiert und kommentiert. Analog dem Unternehmen von Johann Amos Comenius (1592-1670), der in seinem "orbis sensualium pictus" die sichtbare Welt in Bildern darstellte, verwandeln Piktogramme die Welt in Bildzeichen, in einfach lesbare stilisierte Formen, die funktional darauf zielen, eindeutig und schnell Information und Orientierung zu vermitteln. Ein Teil von ihnen wurde international in Form und Bedeutung festgelegt, andere wiederum sind nur in bestimmten Kontexten, national, regional oder anderen Kommunikationsgemeinschaften lesbar. In puncto Lesbarkeit lassen sich Piktogramme weiter unterteilen. So unterscheidet der Typograph und Erfinder vieler Piktogramme, Adrian Frutiger zwischen naturalistischen Zeichen, etwa die Abbildung eines Telefons, deren Bedeutung nicht extra erlernt werden muss von einer zweiten Gruppe. Diese umfaßt Schemata, deren Aussage nicht auf den ersten Blick verständlich sind und die eine gewisse gedankliche Anstrengung erfor-dern. Ein Beispiel wäre das Vorfahrtszeichen. In diesem Bereich gibt es auch die meisten Erfindungen mit zweifelhafter Bedeutung. Aus rein abstrakten Zeichen besteht die dritte Grup-pe. Hierzu gehört etwa das Fahrverbotszeichen, die wie das Alphabet, einen längeren Lernprozess erfordern. Solche einführenden Überlegungen, auch zur Zeichen- und Sprachtheorie, es wird lediglich auf die Doppelfunktion der Schrift, Zeichen und Bild (graphisches Element) zu sein, hingewiesen, vermißt man in den Textbeiträgen, die sich andererseits des Fachvokabulars wie Denotation, Ideogramm, Icon oder ikonisch-abbildend und symbolisch-konventionell bedienen. Dies ist bedauerlich bei einer Ausstellung auch für ein allgemeines Publikum. Die Komplexität wird indes noch gesteigert. Allenfalls allgemein, als heuristisches Mittel, definiert die Einführung Piktogramme. Die Ausstellungsmacher stehen vor objektiven Schwierigkeiten. Nicht nur verwenden die Künstler das gesamte Spektrum von Piktogrammen, sondern sie verfolgen, sprach- und zeichentheoretisch, auch unterschiedliche Strategien. Auch darauf weist die Einleitung hin, jeder Künstler definiert Piktogramm anders. Nicht nur im Bildzeichen haben wir es also mit Privatsprachen zu tun, sondern auch definitorisch. Ob man dabei immer von Piktogrammen sprechen kann, legt man eine landläufige Definition oder die der Ausstellungsmacher zu Grunde, bleibt damit letztlich offen. Die Ausstellung zeigt überdies sowohl Werke mit Piktogrammen, die Bildflächen ausfüllen als auch Werke, in die Piktogramme, neben anderen Zeichen, integriert werden. Das ist z.B. bei Joseph Beuys der Fall. Eine weitere Ausweitung erfährt die Ausstellung dadurch, dass Piktogramme von Designern, Wissenschaftlern und Typographen gezeigt werden, die sie für alltagspraktische Zwecke entwarfen. Das ist etwa bei Otl Aicher der Fall, der die noch heute verwendeten Bild-zeichen für Sportarten für die Olympischen Spiele in München 1972 entwarf.
In der Einleitung von Marion Ackermann und Pirkko Rathgeber erfährt man lediglich von der Polarität zweier Strategien. Einerseits sei, durch den Zerfall traditioneller Bildwelten, die Sehnsucht nach der Schaffung einer Universalsprache zentrales Thema in der Kunst der Mo-derne geworden, andererseits überbiete sie in manchen Bildstrategien, die, wie Giorgio de Chirico sie nennt, "Einsamkeit der Zeichen", durch Schaffung von Privatsprachen. Diese jedoch verschließen sich hermetisch der Lesbarkeit.

In fünf Stationen steuert der Katalog unterschiedliche Zugänge des Umgangs mit Piktogrammen an. Im ersten Teil geht es vornehmlich um das Paradox, bisweilen auch um den Dualismus, Privat- versus Universalsprache. Es kommen dabei Bildstrategien von Willi Baumeister, Henri Michaux, Dieter Roth, Joseph Beuys und der russischen Avantgarde, die eher am Pol Suche nach einer Universalsprache in Rußland angesiedelt ist, zu Wort und Bild. Im Unterschied zur theoretischen Fundierung, empirisch hat die Ausstellung eine Fülle von Beispielen aufzubieten, die ihresgleichen sucht. Der zweite Teil befaßt sich mit Werken, in denen, überschrieben mit "Wiederkehr der Zeichen", Künstler aus vorhandenem Bild- und Zeichenfundus zitieren wie Rosemarie Trockel und Jannis Kounellis, die das Swastika-Zeichen (Hakenkreuz) in neue Kontexte einfügen. Dem Verhältnis von Verwendungen von Bildzeichen in der angewandten und freien Kunst widmet sich der dritte Teil. Sehr spannend etwa die Strategie von Matt Mullican, die Universal- und Privatsprache kombiniert. So entnimmt Mullican Zeichen aus der Alltagswelt, andererseits erfindet er nach deren formalem Vorbild eigene, um die Welt der Dinge enzyklopädisch darstellen zu können. Unterbrochen werden die Essays der Autoren durch Texte der beteiligten Künstler, die farblich abgesetzt wurden. Interessant etwa der Hinweis des Künstlers Xu Bing, durch Computer und Internet, die mit global standardisierten Icons und Piktogrammen ausgerüstet wurden, verbreite sich ein neues Bildvokabular weltweit über bestehende Sprach- und Schriftgrenzen hinaus. So weit so gut, soziologisch fragwürdig aber seine Rede von der Abnahme des Analphabetentums, man schreite voran auf dem Weg einer "gemeinsamen Verständigung". Es muß hier nicht betont werden, nur einfache Sachverhalte lassen sich zu und in Bildern stilisieren und wie Frutiger betonte, viele Piktogramme müssen, wie das Alphabet erlernt werden. Punkt drei, zur digitalen Spaltung, die Soziologen beobachten, hat Bing nichts gesagt.
Auf Station vier geht es um den Platz der Piktogramme an der Schnittstelle von Alltag und Kunst. In der fünften Station wird eine Umkehrung der Perspektive vorgenommen. Die Struktur der Welt selbst wird als zeichenhaft verstanden. Da ist denn auch Georges Bataille nicht weit, dessen Ansatz in der kurzlebigen Zeitschrift "Documents" Georges Didi-Huberman nachzeichnet.

Ein Alphabet der Piktogramme wurde noch nicht erfunden. Deutlich wird, die Kunst zu Anfang des 20. Jahrhunderts leistete bei der Erfindung vieler Piktogramme einen Beitrag. Dass hier die innovativen Konzepte der russischen Avantgarde gewürdigt wurden, ist schön, allerdings bedarf die Charakterisierung des kommunistischen Systems durch Tanja Zimmermann, eine Ergänzung. Keinesfalls, so ihr Text, ist nur der Nationalsozalismus eine "reaktionäre Form" des Totalitarismus, sondern dieser ist per se reaktionär, weil der den erreichten Stand der Freiheit vom Staat negiert und keinesfalls verabsolutierte nur der "Faschismus...auch die Nationalsprache", sondern, das müßte inzwischen bekannt sein, betrieb Stalin eine gnadenlose Russifizierungspolitik. Hier davon zu sprechen, der "sowjetische Kommunismus...suchte die neuen Menschen über Sprachgrenzen hinaus zu einen" ist schlichtweg ein Euphemismus. Die Texte zu den einzelnen Stationen stellen nicht voll zufrieden. So wird in Rathgebers Text zwar deutlich, dass sich z.B. Henri Michaux in seiner Verwendung der Zeichen, die aus uni-versellem Vorrat entnommen, neu gestaltet werden, für die visuelle Ebene interessiert, weshalb aber Dieter Roth durch die Attacke auf die Gültigkeit "etablierter Zeichensysteme" die "Möglichkeit einer intersubjektiv verständlichen Bild-Sprache" eröffnet, wird nicht plausibel. Am weitesten fortgeschritten, das zeigt der Katalog sehr schön, ist die Universalisierung der Piktogramme dort, wo Menschen unterschiedlicher Sprachen und Schriften aufeinander tref-fen, an internationalen Verkehrsknotenpunkten und im World Wide Web, die Dominanz der lateinischen Schriftzeichen, das hätte man gern erfahren, wird dadurch aber nicht gebrochen, vielerorts herrscht Doppelbeschriftung. Auch - das hätte man gerne erfahren - einige Piktogramme erwiesen sich im internationalen Verkehr als dysfunktional und es mußte wieder auf Schrift umgestellt werden.

Die Ausstellung wählte den Untertitel "Die Einsamkeit der Zeichen". Die Ausgangsthese, das Äquivalent des Verlusts des Sinnzusammenhangs der Welt bilde die Separierung der Zeichen, bedürfte einer genaueren historischen Situierung. Bereits im Mittelalter, als zumindest die europäische Welt noch nicht transzendent obdachlos war, spazierten verschiedene Zeichensysteme nebeneinander. So ist es überaus interessant, welche Transformation die Swastika, einst Symbol für Sonne, Glück und Segen, durchlief, ehe es vom Nationalsozialismus okkupiert wurde. Davon erfährt man leider nichts im Katalog, auch ein Glossar fehlt. Deshalb sei das umfassende und didaktisch hervorragende Nachschlagewerk "Seemanns Lexikon der Symbole, Zeichen, Schriften, Marken, Signets" empfohlen. Auch die farblich hervorragenden Leitsysteme im Katalog beheben diesen Mangel nicht.
17.3.2007


Sigrid Gaisreiter
Piktogramme - Die Einsamkeit der Zeichen. Katalog zur Aussstellung im Kunstmuseum Stuttgart vom 4. November 2006 bis 25. Februar 2007. Dt. /Engl. 320 S., 250 fb. Abb. 25 x 21 cm. Pb, Deutscher Kunstverlag, München 2006. EUR 39,90
ISBN 3-422-06674-8
 
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