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Das Material der Kunst - Wie entsteht aus Material Sinn?

Seit längerer Zeit war ein Überblick über die Verwendung verschiedener Materialien in der modernen Kunst überfällig - die Kunst der Moderne ist auch eine Kunst der Präsentation von Materialien. Monika Wagner, Professorin für Kunstgeschichte an der Universität Hamburg und ausgewiesene Spezialistin für dieses umfangreiche Thema, hat nun in beispielhaften Einzelanalysen ein komplexen Einblick in die Verwendung von Materialien in der modernen Kunst vor den lesenden Betrachtern geliefert. Ihr Buch ist, das sei hier gleich vorweggesagt, keine fleißig aufgetürmte Materialschlacht, sondern im Gegenteil ein klug argumentierendes, sorgsam abwägendes und stellenweise erfrischend ironisch formuliertes Feld von Fragestellungen, das einen zentralen Aspekt der Moderne beleuchtet, der erst in den letzten Jahren von der Kunstgeschichte bewußt wahrgenommen wurde - es geht dabei um die Bedeutung des Materials der Kunst, die erst in und mit seiner Austausch- und Veränderbarkeit zur Anschauung kommt.
Nicht erst seit den durch Joseph Beuys populär gewordenen Substanzen wie Fett und Filz oder auch der bis heute immer wieder demonstrierten Inszenierung des menschlichen Körpers als Naturmaterial wird deutlich, wie sehr sich die Kunstsprache der Moderne in ein aktuelles Sprechen, in eine kontextuelle und metaphorisch bestimmte Verwendung von Materialien und Materialbedeutungen verwandelt hat. Wagner vermeidet es denn auch strikt, einen scheinbar vollständigen Überblick über den Umgang mit ästhetisch bestimmten Materialien zu liefern. Stattdessen steht immer auch der Kontext und die Reflexion des Wie im Rahmen ihrer Überlegungen. Beispielsweise bestand Duchamps Urinoir, das als ready-made Kunstgeschichte machte, aus weißem Porzellan - einem Material, das, wie Wagner schreibt, nicht nur zum ""plastischen Urstoff schlechthin"" zählte, sondern ""das auch in den Gründungsmythen den Transfer vom Gebrauchsgut zur Kunst verkörperte""( S. 70). Wagners Methode einer sehr konkreten und kontextell verfahrenden Material-Analyse verlangt ein Mitdenken auf vielen Ebenen. Die von ihr behandelten Materialien - etwa Erde, Blut, Luft, Feuer, Fett, Fleisch, Farben, Getreide, u. v.a.m. - werden jeweils in ihren sehr unterschiedlichen ästhetischen Verwendungszusammenhängen betrachtet und auch in ihrem künstlerischen Innovationscharakter bestimmt. Dass etwa die Verwendung von Fett durch Joseph Beuys im Kontext mit dem ""deutschen Fettplan"" aus der Zeit des Nationalsozialismus in einen (überzeugenden) Zusammenhang gebracht wird, zeigt eine Stärke der hier realisierten Darstellung. Statt ihr in endlosen ikonographischen Bezügen aufzusplittern, fragt die Autorin in erster Linie danach, wie das jeweilige Material durch seine spezifische Verwendung einen bestimmten Bedeutungswandel erfährt - mithin wie aus dem Material ein neuer, ästhetisch transformierter Sinn entsteht, der durch die Art und Weise der Materialveränderung und -präsentation mitbedingt und aktiviert wird. Deutlich wird dabei auch wie sehr die bestimmte Verwendung von Materialien Bedeutungen ein- oder ausschließen können: etwa wie die Verwendung von Blut im Werk von Nitsch und Paik, die etwa ""skandalträchtig das falsche Blut am richtigen Ort beziehungsweise richtiges Blut am falschen Ort"" einsetzen (S. 227). Im Kapitel ""Hautloses Fleisch - Fleisch als Haut"" nähert sich die Autorin einer mehr oder weniger appetitlichen Dimension ihres Themas - der Verwendung von Fleisch als ""Gestaltungsmaterial für antropomorphe Objekte"". Das auf dem Titel abgebildete Modell mit dem Titel ""Vanitas: Flesh Dress for an Albino Anorectic"" der Künstlerin Jana Sterbak ( S. 232ff. ) geht dem Betrachter unter die Haut - das rohe Fleischkleid und der nackte Körper scheinen sich in ihrer vielschichtigen Semantik auszutauschen, wie Wagner ausführlich darstellt. Das letzte Kapitel Der Körper als Material (S. 271ff.) macht schließlich deutlich, wo und wie die Grenzen dieses Bandes verlaufen: den menschlichen Körper als Material zu verstehen, setzt ein überaus materialistisches Menschenbild voraus. Zu fragen wäre, ob und wie selbst das zentrale Organ des Menschen - das Gehirn - nicht auch als Material-Metapher zu verstehen wäre. An dieser Stelle ist Wagners Ausblick auf die künftige immaterielle (sprachlich-reflexive) Dimension des Themas unübersehbar. Der seit den letzten Jahren entwickelte Rekurs auf die zunehmende digital vermittelte Form, die tendenzielle Unsichtbarkeit der Materialien und Medien (als Denkwerkzeugen) macht deutlich, wohin die Reise gehen wird: in die verzweigten Räume und Zwischenstationen von informierenden Materialien und sich selbst kommentierenden Kontexten, durch die die haptische Realität letztlich immer stärker aufgelöst wird. Mit ihrem Band hat die Autorin ein wegweisendes und dazu noch sehr gut lesbares Handbuch vorgelegt, das künftig wohl als Standwerk wird gelten können.
20.6.2001
Michael Kröger
Wagner, Monika. Das Material in der Kunst. Eine andere Moderne. 350 S., 148 Abb., dav. 48 fb., 2001. DM 78, 50
ISBN 3-406-47218-4   [C. H. Beck]
 
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