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Henri Matisse

"Im Grunde", so Pablo Picasso, "gibt es nur einen: Matisse". Als Picasso dies über seinen Kollegen sagte, gehörte die anfängliche Rivalität und Herabsetzung, die Picasso im Kreise seiner Anhänger anfangs betrieb, der Vergangenheit an. Auf die Anerkennung der meisten seiner Kollegen wartete Henri Matisse (1869-1954) aber vergeblich. Von diesen und anderen Geschichten in Leben und Werk von Matisse erzählt eine neues, wegen des Umfangs von 1000 Seiten, zweiteiliges Werk von Hilary Spurling. Konzipiert als Künstlerbiographie entwirft dieses Werk, wie alle guten Biographien, auch ein Zeitporträt. Um Zeit und Leben plastisch werden zu lassen, stieg Spurling in Archive, verarbeitete ältere Literatur zu Matisse, sprach mit seinen Nachfahren und wertete erstmals die Familienkorrespondenz aus. Matisse wird 1869, also ungefähr zu der Zeit als Edouard Manet die gesamte klassizistische Fraktion in Frankreichs etablierten Kunstinstitutionen, der Ecole des Beaux-Arts und den offiziellen Salons, herausforderte und gegen sich aufbrachte, geboren. Als Matisse sich 1891 gegen den Willen seiner Eltern nach Paris aufmachte um Maler zu werden, seine kaum begonnene juristische Laufbahn beendete er abrupt, war die Hochzeit des Impressionismus bereits vorbei. Der Klassizismus befand sich zwar auf dem Rückzug, dachte aber nicht daran, seine Bastionen kampflos aufzugeben. So behauptete die Ecole des Beaux-Arts nach wie vor ihre dominante Stellung in der Künstlerausbildung. Wie Matisse, so mußten auch andere, antiklassizistisch eingestellte Maler, ihre Ausbildung in privaten Kunststätten zu absolvieren. Matisse kam über mehrere Zwischenstationen schließlich im Atelier des Malers Gustave Moreau unter. Immerhin, es bestanden zu Matisse' Zeit bereits Ausstellungsalternativen. So hatte sich ein System von Kunstgalerien, ausgehend von der berühmten von Durand-Ruel, der erstmals Impressionisten ausgestellt hatte, ebenso etabliert wie einige Privatsammler.

Matisse traf zwar auf eine, im Verhältnis zu seinen impressionistischen Vorgängern etwas modernisierte Infrastruktur von Kunstinstitutionen, das breite Publikum jedoch verhielt sich genauso ablehnend gegenüber allem künstlerisch Avancierten, wie zu Zeiten Mitte des 19. Jahrhunderts.

Spurlings Biographie geht strikt chronologisch vor, wirkt jedoch an keiner Stelle langweilig, da es der Autorin in geradezu magischer Weise versteht, unterschiedliche Ebenen miteinander geschickt zu verknüpfen. Der Anspruch der Autorin, die Biographie wie ein Gemälde von Matisse zu gestalten, wird voll eingelöst. Wie selten bei einem Künstler, bei Matisse sind Leben und Werk so eng verflochten, dass es schon großer Kunst bedarf diese enge Verbindung richtig zu justieren. Das ist Spurling in der minutiösen Rekonstruktion des Lebens von Matisse gelungen. Bald nachdem Matisse 1894 Vater einer Tochter wurde, erzielte er seinen ersten künstlerischen Erfolg, "Die Lesende" wurde vom Staat angekauft, fast die einzige öffentliche Anerkennung, die Matisse zu Lebzeiten in Frankreich erfuhr. 1898 heiratet der Künstler Amélie Parayre und hat mit ihr zwei Söhne und nahm seine Tochter zu sich. Damit war das Quartett komplett, auf das er sich in den vielen kritischen Momenten, die folgen sollten, stets verlassen konnte, denen aber auch in künstlerische Krisen und Orientierungsphasen immer wieder viel Geduld abverlangt wurde. Die Familie hielt von ihm alles Störende fern und kümmert sich um die Vermarktung. Nach einem relativ erfolgreichen Start folgten viele Jahre, in der von einer positiven Rezeption des Werkes von Matisse kaum gesprochen werden kann. Erst gegen Ende seines Lebens erreichte Matisse wieder eine gewisse öffentliche Anerken-nung. Eines bleibt fast durchweg konstant, viele empörten sich über Matisse' Werk, das in seinen Anfängen recht konventionell war. Zunehmend verstört reagierte der überwiegende Teil der Presse und des Publikums, aber auch Weggefährten, wie André Derain, wandten sich von ihm ab. Damit haderte Matisse lange, da er als Kopf, zusammen mit Maurice de Vlaminck und Derain, der Künstlergruppe "Fauves" (wilde Tiere) galt, die 1905 im Pariser Herbstsalon mit einer pastosen Farborgie einen Skandal ausgelöst hatte. Die Gruppe verband keine Theorie, eher eine allgemeine Auffassung, die in der Ablehnung des Impressionismus und des Naturalismus bestand. Sie führten die künstlerischen Ansätze von Paul Gauguin und Vincent van Gogh weiter. Am radikalsten war vielleicht Matisse, der die Verselbständigung der Farbe als Ausdrucksmittel am weitesten trieb und ihr dekorative Funktionen zuwies. Auch die Vereinfachung der Formen wird er am weitesten vorantreiben bis er im Spätwerk die Grenze zur Abstraktion erreicht.

Matisse hatte es schwer, sich durchzusetzen. Dies bewirkte im Laufe der Zeit einen verstärkten Rückzug aus der Öffentlichkeit und so geht er in die Provinz, nach Issyles-Moulineaux. Auch eine Konstante in Matisse' Leben, ständige Geldsorgen. Die Familie finanziert sich in dieser Zeit über den Verkauf seiner älteren Bilder. Matisse isoliert sich zunehmend und wirkt auch privat häufig recht schroff. Spurling verhält sich insgesamt neutral und weist immer wieder darauf hin, wie stark die vielen Demütigungen auf Matisse wirkten, viele davon wird er nie vergessen. Letztlich bedeutete der Rückzug eine Entfesselung des bereits vorhandenen Arbeitsfurors, so dass Matisse fast nichts anderes außer seiner Kunst wahrnimmt. Aus dieser für sie besonders belastenden Lage befreit sich Amélie spät und läßt sich scheiden. Von diesem Schlag erholt sich Matisse, hat er doch in Lydia Delectorskaya eine Mitarbeiterin gefunden, die sich für ihn und sein Werk aufopfert.

Kaum vier Jahre nach dem Skandal beim Pariser Herbstsalon 1905 scheint der Fauvismus bereits Geschichte zu sein, allein Matisse sorgte weiterhin, so beim Salon des Indépendents von 1909, für Negativschlagzeilen. Als "Inbegriff des Grotesken" galt sein Gemälde "La Fille aux yeux verts" (Das grünäugige Mädchen) ein "Durcheinander fleckiger, greller, exaltierter Farben", so zitiert Spurling eine Reaktion. Brachte Matisse zunächst die Fraktion der Konservativen und Älteren gegen sich auf, so konnten alsbald auch die Jüngeren und Progressiven, so Spurling, mit seiner Kunst "nichts anfangen", ja, auch das zeigt die Autorin, teilwei-se wurden seine Werke erst 50 Jahre nach deren Entstehen goutiert. Ablehnung ist das eine, aber die Angriff gingen weit darüber hinaus und pathologisierten Matisse auch als Person. Daher ist es kein Zufall, dass Matisse immer wieder bei dem von ihm erworbenen Bild von Paul Cezanne "Drei Badende" Trost suchte, galt Cezanne doch auch als ein Fall für die Psychiatrie, so sah es lang selbst der sich progressiv gebende Edouard Manet.

Auf Matisse trifft insbesondere zu, was der Soziologe Pierre Bourdieu als Eigentümlichkeit der Kunst beschrieb, dass sich Neues erst mit zum Teil langer Zeitverzögerung durchsetzt. Umgeben von einer kleinen Schar von Freunden, Kollegen und Sammlern schuf Matisse ein großes Werk. Als wesentlich für Matisse' Entwicklung wird die Auseinandersetzung mit der Kunst von William Turner und Giotto (1267-1337), ein Architekt der Farben, der byzantinischen Ikonenmalerei und der Kunst Ozeaniens und des Orients, geschildert, denen er auf zahlreichen Reisen begegnete. Als einer der ersten unter den Modernen lenkte er den Blick auf diese Kunst, die bald "Primitivismus" genannt wird. Er war mit seiner Kunst, auch das sagt Spurling, in vielem seiner Zeit voraus. Daher ist es wichtig, dass einige Schlüsselwerke von Matisse im Buch farbig reproduziert wurden. Wie aus der Zeit gefallen, wirkte dessen Werk noch in den 1920er Jahren. Konstant blieb die Ablehnung der Werke aus Matisse' Vorkriegsperiode und der Fauvismus wurde seit den 1910er Jahren vom Kubismus in der öffentlichen Aufmerksamkeit überrundet. In den neuesten Arbeiten der 1920er Jahre wiederum sahen viele der Avantgardekünstler Matisse' Kreativität erlahmen. Oberflächlich rezipiert erschienen ihnen die neuesten Werke als Rückschritt. Keinen Sinn hatten die Kritiker für das Hintergründige dieser Bilder und Matisse' Neufassung des Dekorativen, das er aus seiner untergeordneten Stellung in der europäischen Kunst befreite. Der russische Kunstkritiker Jacob Tugendhold faßt zusammen: "gerade diese fehlende Unterscheidung zwischen Muster und Hintergrund ist auch das charakteristische Merkmal von Matisse' Werk. [...] Die Malerei von Matisse hat nichts vom würdevollen Ernst der hohen Kunst, sondern besitzt eine eigene Fröhlichkeit, die mehr mit dem rein Dekorativen im orientalischen Sinne zu tun hat...". Das bedeutet, darauf wies Pierre Schneider eindringlich hin, Matisse unterlief die okzidentale Vorstellung, dass das Dekorative den Geist ausschließe, sich nur an die Sinne, wie das Kunsthandwerkliche wende, mit dem Matisse' Kunst deshalb häufig bedacht wurde und das Bild von Matisse lange bestimmte. So machten es sich die Kuratoren der Düsseldorfer Matisse-Ausstellung von 2005 zur Aufgabe, Matisse von dem Geruch des harmlosen Dekorateurs zu befreien.

Der russischen Matisse-Sammler Sergej Schtschukin lag mit seiner Prognose, dass das Publikum gegen Matisse, aber die Zukunft für ihn sei, richtig. Matisse wird heute gefeiert, wo immer er ausgestellt wird, purzeln die Besucherrekorde. Allein 900 000 Besucher sahen 1992 die Matisse-Retrospektive im New Yorker Museum of Modern Art. Als Magnet erweist sich immer wieder das Spätwerk, das in den 1940er Jahren beginnend, angesetzt wird und das in den berühmten Gouaches découpées, diesem Zeichnen und Malen mit der Schere, gipfelt. Für Matisse war es ein Befreiungsschlag, er wagte sich auf künstlerisches Neuland. Hatte ihn das Dekorative schon seit seiner Kindheit in Nordfrankreich, einer Hochburg der Textilherstellung, begleitet, so stürzt er sich, so Spurling, "in diese Welt der Dekoration, deren Muster und Bewegungen seiner inneren Welt gehorchten", denen er sich überließ. Viele sahen in diesen Werken, die an die Grenzen der Abstraktion vordrangen, einen Rückfall in eine "zweite Kindheit", Matisse schnitt aus farbigen Papieren freihändig monochrome Formen, die bald die Wände seines Ateliers bedeckten. Farbig abgebildet sind der berühmte "Sturz des Ikarus" von 1943 und "La Tristesse du roi" aus 1952. Der spätere Direktor der Musées de France, Georges Salles, wähnte sich in einem "phantastischen Laboratorium" mit "Hochspannungsleitungen". Selbst Picasso, der Matisse besuchte, versetzten diese Werke "in Trance", eine späte Ehrung für Matisse, der sich seinerseits durch den Kubismus Picassos herausgefordert sah. 2002 lud die Tate Modern in London zum Gipfeltreffen ein und stellte in einer Ausstellung beide Giganten einander gegenüber. Dadurch wurde sichtbar, wie sich der alte Dualismus von zeichnerischem Stil, (Kontur / Poussinisten) und malerischem ( Farbe / Rubenisten) in Picasso versus Matisse reproduzierte. Immerhin, späte Genugtuung für Matisse, eines seiner revolutionärsten Werke, das 1911 entstandene "Rotes Atelier", das nach dem Krieg nach New York verkauft wurde, brachte der sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausbildenden New Yorker School um Jackson Pollock neue Impulse.

Die Untertitel von Spurlings Biographie sind richtig gesetzt. Sie erzählt viel Unbekanntes vom Meister, viele Binnengeschichten, die für sich ein eigenes Buch rechtfertigen würden, und sie rückt auch einige Aspekte zurecht. So ging man bisher davon aus, dass die Schriftstellerin Gertrude Stein, so wie diese es in ihrer aufsehenerregenden Autobiographie 1933 dargestellt hatte, wesentlich zum Aufbau der Bildersammlung ihrer Familie, dazu gehörten ihre Brüder Leo und Michael und ihre Schwägerin Sarah, beigetragen hatte, zumal die Steins zu den frühen Sammlern von Matisse gehörten. Gertrude Stein, so liest sich das jetzt bei Spurling, übertrieb ihre Rolle gewaltig auf Kosten ihrer völlig unterschlagenen Schwägerin Sarah, die auch von Matisse geschätzt wurde und seine Werke weiterhin sammelte, als Gertrude sich Picasso zuwandte. Picasso oder Matisse, das war die Frage in jener Zeit, die französische Kunstwelt in zwei Parteien gespalten. Matisse zog dabei den kürzeren, wie dessen Unterstützung stets die Sache Weniger blieb. Das gilt auch für Deutschland. Spurlings Forschungen zur Rezeption von Matisse in Deutschland wurden neulich von Peter Kropmanns erweitert. Der Maler Hans Purrmann kann als einer der wenigen Treuen von Matisse angesehen werden. Stärker als Spurling verweist Kropmanns auf die auch in Deutschland manifesten Vorurteile zu Matisse. Diese waren offensichtlich in Frankreich so groß, dass Matisse dort nicht, wie viele andere Künstler seiner Generation mit einem öffentlichen Auftrag bedacht wurde. Dies schmerzte Matisse so sehr, dass er unter Aufbietung seiner letzten physischen und finanziellen Möglichkeiten, die sich ihm plötzlich eröffnende Chance ergriff, sich mit der Ausstattung einer Kapelle in Vence zu verewigen.

Keine Frage, Spurlings Arbeit ergänzt das große Werk von Pierre Schneider zu Matisse' Kunst, das 1984 bei Prestel erschien, vortrefflich. Sie liefert viel Hintergrundmaterial und führt zu neuen Einsichten, auch das Werk von Matisse betreffend. Spurling hat zu recht für diese Leistung den renommierten "Whitbread Book of the Year Award" 2006 erhalten. Und der Verlag DuMont hat das Werk kongenial eingekleidet. Als Verbeugung vor Matisse und seinem Faible für Stoffe erhielten Schuber und Bücher rot und blaue Seidenkleider und als Umschlagbinde eines der schönsten Scherenbilder von Matisse. Ein gelungener Coup, Spurling, die zuvor schon mit Biographien der Schriftsteller Paul Scott und Anthony Powell Kritiker begeisterte, ist die Meisterin der Künstlerbiographie. Zum vollständigen Matisse-Glück fehlt jetzt nur noch eines, den beim Verlag Belser vergriffenen Matisse-Roman von Louis Aragon neu aufzulegen.
17.7.2007



Sigrid Gaisreiter
Spurling, Hilary: Henri Matisse. Leben und Werk. 2 Bde/Tle. 1200 S., 50 sw. u. 48 fb. Abb. 23 x 17 cm. DuMont, Köln 2007. EUR 116,00
ISBN 978-3-8321-7774-4
 
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