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Europa verlassen – Künstlerreisen am Beginn des 20. Jahrhunderts

Alles bisher Gehörte für einen Moment wegschieben zu können, um so eine neue Sichtweise zu gewinnen – das bewirkt das Textbuch „Europa verlassen. Künstlerreisen am Beginn des 20. Jahrhunderts“ von Christoph Otterbeck. Es liest sich, obgleich eine Dissertation, angenehm und ist von der ersten bis zur letzten Seite ein Gewinn für den Leser.
Der Kolonialismus zog in Europa ein Bild der kolonialisierten Länder nach sich, das von den weißen Machthabern diktiert und den Machterhalt sichern sollte. In der Kunst, so Otterbecks These, wurde diese Konstellation keineswegs überwunden, häufig sogar zementiert. Der Exotismus überwand nicht immer die geistige Hinterlassenschaft der sog. „Völkerschauen“, wo Menschen Tieren gleich als Besichtigungsobjekte präsentiert wurden. Viele Künstler machten sich im frühen 20. Jahrhundert auf den Weg in die fernsten Ländern. Der Autor hat für seine Betrachtung solche ausgewählt, die zur breiten Strömung der Künstler gehörten, am Kunstbetrieb beteiligt waren, und zwischen 1900 und 1914 ihre Reisen unternahmen. Er untersuchte nicht nur die entstandenen Bilder, sondern las auch Briefe, Tagebücher, Aufzeichnungen. Und es gelingt: Der Leser wird richtiggehend mit auf die Reise genommen! Mit Emil Orlik nach Japan, Gabriele Münter und Wassily Kandinsky nach Tunesien, Eugen Kahler in den Orient, mit René Beeh nach Algerien, Max Slevogt nach Ägypten, mit Paul Klee, August Macke und Louis Moilliet nach Tunesien, mit Karl Hofer nach Indien und Ottylie Reylaender nach Mexiko, mit Emil Nolde nach Neuguinea und Max Pechstein nach Palau. Alles wird einem ganz nahe: Reiseplanung, Hürden, Ängste, Aufgeregtheit, Anreise, Unterbringung und dann die Entstehungsbedingungen der einzelnen Bilder. Da sind lang vertraute Werke neu zu betrachten; Spannenderes gibt es ja kaum. Otterbeck gelingt es, die Atmosphäre der Reisen und die innere Haltung der Künstler einzufangen, ohne jedoch seinen Spähposten als Kunsthistoriker zu verlassen.
Das kommt dann seiner synoptischen Analyse zugute. Hier müssen Fans der (zum Teil farbig abgedruckten) Bilder tapfer sein: Nüchtern und ernüchternd ist die Bewertung:
„Die konkrete Erfahrung der Differenz, der Aufenthalt der reisenden Künstler in der ungewohnten Umgebung der fremden Länder, provozierte keine künstlerischen Innovationen, sondern begünstige die Rückversicherung an der neuzeitlich-europäischen Bildpraxis; zwar nicht im Sinne der Anwendung der akademisch-illusionistischen Malweise, wohl aber in der Beharrung auf dem europäischen Bildverständnis, das die Bilder als Zeugnis einer visuellen und emotionalen Erfahrung der Maler ansieht und dem Betrachter als Angebot für die Vorstellung anderer Orte und auch Zeiten dient.“ Die Künstler haben die Mode des Exotismus für sich nutzbar gemacht, ohne über sich als Mitglieder zerstörerischer, mindestens aber einflussnehmender Kolonialmächte Rechenschaft abzulegen. So gut wie nie sind die Spuren der Europäer auf den Bildern zu finden, keine Neubauten, keine Touristenhotels, keine ‚weißen’ Gesichter. Stattdessen wird in die Tasten gehauen, die das Publikum zuhause kennt: „Auf den allermeisten Werken aber findet sich eines der Zeichen, die einen europäischen Betrachter an einen Ort im Orient denken lassen: Gewänder und Turbane, die kubische Architektur oder Kuppeln, Palmen oder Kamele.“ Was sich wirklich in den Kolonien abspielte – davon kaum Spuren. Die Dargstellten sind nur als Gruppenzugehörige zu erkennen, selten ging es den Malern um das Individuum. Otterbeck: „Es handelt sich um eine Neuinszenierung von Stereotypen.“ Nur ihre unbestritten neuen formalen Stilmittel, die beim breiten Publikum zunächst Verwirrung hervorriefen, hätten die Bilder davor bewahrt, ihnen sofort die Maske des üblichen Exotismus, des Kolonialismus herunterreißen zu können. Die Maler blendeten alle Eindrücke, die ihre Bilder stören würden aus. Das hatte auch Folgen auf ihre Kunst als Strömung. Die Avantgarde hätten sie nicht inspirieren können, sondern mussten sogleich in den Begriff „Klassische Moderne“ gebettet werden. Erst nach ihnen, mit den zwanziger Jahren setzte eine Phase der kritischeren Betrachtung des Exotismus durch Künstler ein. Mehrmals habe ich Kapitel dieses Buches gelesen (und werde es wieder tun), habe es anderen gegeben, wilde Diskussionen schlossen sich an. Es lassen sich so viele Details überdenken!
Eine Schwierigkeit schafft jedoch auch dieses Buch nicht zu umschiffen: Bei aller Detailbetrachtung dürfte im besten Fall nicht der Blick für das große Wunderbare verloren gehen. Ich habe es getestet. Bei allem neuen Wissen, das mir das Buch beschert hat, bei aller neuen Deutung traf mich die Wucht des Genialen beim Betrachten der Bilder doch wieder. Gerade bei Nolde. Die von Otterbeck kritisierten Bilder künden dann doch in ihrer Farbgebung und Komposition von einem unabhängigen Geist mit so nicht erfassbarem künstlerischem Freiheitsdrang.
(Für Kunsthistoriker und Kunstkritiker ist es, das am Rande, zwar wirklich schwer, für Nolde Sympathien zu entwickeln – das liegt aber an der Nachlassverwaltung, der Emil und Ada Nolde- Stiftung, die nicht nur aggressiv mit ihrem Auftrag umgeht, sondern ihn zur Zeit durchbricht: Das Nolde-Museum ist in Noldes ehemaligem Wohnhaus untergebracht, das sich in landschaftlich einmaliger Lage in Nordfriesland befindet. Der Erhalt dieser Landschaft, die Nolde Inspiration war, ist gefährdet. Durch die Nolde-Stiftung. Die baut sich direkt neben das Museum einen Erweiterungsbau, der dem Auge wehtut. Die Gemeinde schaut zu, die überregionale Presse berichtet nicht. Kein einfacher Sparringpartner, den die Kunsthistoriker da haben.)
Vor dem Originalbild zu stehen, bedeutet dann doch wieder, seiner Wirkung zu erliegen. Alle im Buch besprochenen Maler waren Revolutionäre, und sie haben die Zeit überdauernde Bilder geschaffen. Die nötigen kritischen Ansätze mussten endlich ins Bewusstsein gerufen werden. Eine große Herausforderung aber wird es sein, die Freiheit, die sich diese Künstler erkämpft haben, festzuhalten. Eine gegenüber Nacktheit verklemmte Kunstkritik wäre ein Rückschritt, hinter Nolde, Macke, Pechstein zurückzufallen ein Verlust an Unabhängigkeit. Ob Frauen auf Bildern zu verpacken Frauenschutz ist, ist die Frage.
„Europa verlassen“ ist eine erhellende Lektüre, mit viel mehr Facetten als hier genannt. Ich habe manche Absätze mehrmals nachgelesen, habe jeden Verweis verfolgt und mir genau die Abbildungen angesehen. Da macht auch deswegen Freude, weil das Buch wunderbar gestaltet und ausgestattet ist, der Böhlau-Verlag hat sich damit alle Ehre gemacht. Leicht zu lesen, schön anzusehen; es lohnt sich auch für Laien. Rundum anschaffenswert.
17.7.2007

Mareille Herbst
Otterbeck, Christoph: Europa verlassen. Künstlerreisen am Beginn des 20. Jahrhunderts. 2006. 496 S., 149 sw. u. ca. 35 fb. Abb. 24 x 17 cm. (Stud. z. Kunst 4), 'Böhlau, Köln 2006. EUR 54,90
ISBN 3-412-00206-2
 
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