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Shandyismus – Die Abschweifung als Kunstausstellung

Der Schriftsteller Laurence Sterne (1713-1768) schrieb mit dem Roman „Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman“ eines der wirkungsmächtigsten Werke der Weltliteratur, von dem 1759 die Auftaktbände, des auf neun Bände konzipierten Werkes, erschienen. Im deutschsprachigen Raum erschien das Werk ebenfalls in neun Bänden bis 2007 eine einbändige Ausgabe die die neun Teile integrierte. Bis heute begeisterte das Werk viele Künstler und Literaten, Arno Schmidt und Thomas Mann gehören ob dessen Modernität zu seinen Bewunderern und auch Literaturwissenschaftler spürten dem Geheimnis des Tristram nach. Auch den in Stuttgart an der Merz-Akademie wirkende Professor für Ästhetische Theorie und Kurator Helmut Draxler interessierte die Vielschichtigkeit von Sternes Herangehensweise und er sieht u.a. im selbstreflexiven Witz und der Sterneschen Ironie ein Arsenal an ästhetischen Möglichkeiten, die insbesondere die literarische und künstlerische Moderne bearbeitete. Der Weg geht vom Roman zur Ausstellung, die als Ausstellungskatalog wieder den Weg zurück in die Buchform fand. Zu sehen war die Ausstellung 2007 in der Wiener Secession und bis Januar 2008 im Kunsthaus Dresden. Der Katalog allein erschließen einem Nicht-Kenner des Tristram, weder die Genialität der Sterneschen Konstruktion noch die sich auf Sterne beziehenden Kunstwerke, so dass ein Exkurs zu Sterne notwendig ist, den die Ausstellung nur in Ansätzen bietet.


Zauber******

Sterne erzählt eine einfache Geschichte, die durch seine Form enorm komplex wird. Auf dem Familiensitz der Shandys, auf Shandy Hall, versammeln sich die Familie und einige Personen, um auf die Geburt der Hauptperson, Tristram Shandy, zu warten. Wo sich Menschen versammeln und warten wird geredet und so ist es auch hier. Den Text strukturiert Sterne als permanente Rede zu ganz unterschiedlichen Themen, die nahezu enzyklopädisch das Wissen der damaligen Zeit repräsentieren. Allein Sternes Textstrategie fordert dem Leser viel ab. So spielt Sterne mit den Zeitebenen, drängt den Verlauf der Geschichte zurück, dehnt und komprimiert Zeit und arbeitet mit dem Prinzip der assoziativen Verknüpfung der Gesprächsgegenstände in Form von Digressionen, Abschweifungen. Dadurch eröffnet sich ihm die Möglichkeit mit dem je gerade verhandelten Kontext zu brechen und permanent neue zu erzeugen, Umwege, gegenläufig zum Gedankenfluss, anzulegen. Die Komplexität steigert Sterne dadurch, dass er in dieses Gedankenkonvolut selbstreflexive Passagen einbaut, in denen er über Autorschaft reflektiert und seine Textstrategie der Abschweifung kommentiert. Dessen Formprobleme widmet er sich an mehreren Stellen und die er pointiert zusammenfasst. Sein Werk sei „digressiv und progressiv – und das zur gleichen Zeit“. Arbeitet er am „progressiven Teil“, dem Hauptstrang, bedeutet dies das Ende der Abschweifung, beginnt er mit einer solchen, steht der übrige Text still. Die Seitenwege in diesem Textlabyrinth legte Sterne so raffiniert an, dass der Leser nicht immer weiß an welchem der Stränge er gerade weiter liest. Manchmal befindet er sich, ohne es zu bemerken, in einer solchen Schleife, verpasst unter Umständen aber einen Exkurs und so fragte sich, immerhin selbst ein Meister von Digressionen, Jean Paul „ Wo geht im Tristram die Handlung fort?“ Wer, wenn nicht Jean Paul könnte den Überblick behalten bei Sterne, der die Kapitel, so zu Knopflöchern und Landkarten, ankündigt aber nicht ausführt. Die labyrinthische Makroform des Ideen- und Wortgewimmels reichert er auch auf der Mikroebene an, Unterbrechungen mitten im Satz, kreative Verwendung von Satzzeichen, explizite Markierungen von Textteilen und andere Paratexte wie Fußnoten, Querverweise aber auch erfundene Zitate oder echte Zitate ohne Quellenangabe. Letztlich ist der Tristram auch ein Buch über die Entstehung des Buches und es stellt auch den Buchhersteller vor Herausforderungen durch eingearbeitete Zeichnungen und weitere graphische Elemente. Sternes gestalterische Eigenheiten gingen so weit, dass er beim Tod der Figur Yorick die Vorder- und Rückseite einer Seite in tiefem Schwarz trauern lässt. Auch ein genialer Einfall findet sich im achtundreissigsten Kapitel im sechsten Band, in dem eine Seite leer bleibt. Hier wird der Leser aufgefordert, sich die Schönheit der Figur, der Witwe Wadman, selbst auszumalen. Als buntscheckiges Sinnbild des Werkes schließlich findet sich im sechsundzwanzigsten Kapitel im dritten Band eine marmorierte Seite, die berühmte „marbled page“, die mit höchstem Aufwand damals individuell gefertigt wurde, so dass jeder der 4000 Leser der Erstausgabe ein Unikat in Händen hielt.

Hypertext

Der Dichter Jean Paul fand Gefallen an dem Tristram, denn nach dieser Methode hätte Sterne, so Paul, „ohne neue Erfahrungen Millionen Bände schreiben können“ und stets hätte man fragen wie Jean Paul nach dem Fortgang der Handlung fragen können. Die Abschweifung ist deshalb nicht nur eine Strategie des Autors, sondern kennzeichnet die Haltung des Lesers, der zu einem diskursiven Spaziergang eingeladen ist, darüber aber auch die Orientierung verlieren kann. Medial vom Buch begrenzt, reizt Sterne mit seinen „windbeuteligen Schweifreden“ die im Buch möglichen Abzweigungen zwar aus, im Verhältnis zum World Wide Web erscheint dies aber geradezu als ein Hort an Übersichtlichkeit. Das Prinzip Sternes finde sich, so der Literaturwissenschaftler Uwe Wirth in einem Aufsatz zur „Digitalen Literatur“ in den Hyper-texten des World Wide Web und nennt dies „radikalisierten Shandyismus“, ein Labyrinth von Verweisen, in dem die Leser durch Hüpfen von Link zu Link ihr ursprüngliches Erkennntisinteresse aus den Augen verlieren können.


Schnittmengen

Laurence Sternes Tristram steht für die Betonung der Konstruktuiertheit der Erzählweisen, für ein Spiel im Spiel, auch mit den medialen Bedingungen der Buchkultur, für die Fiktionalisierung der Fiktion, für die Aufhebung von Haupt- und Nebensache, Ernst und Unernst, antihierarchisch organisiert fordert das Werk den anarchischen Leser und in der Ausstellung den anarchischen Besucher. Helmut Draxler versucht den Shandyismus in seiner historischen Dimension auch als aktuelle Strategie in der Kunst vorzustellen. Auf der Makroebene schließt die Ausstellung insofern an das Buch an, als sie keiner Chronologie folgt und in Analogie von Wand- und Buchseiten auf labyrinthische Raumfolgen und funktionale Leerstellen setzt. Die Ausstellungsarchitektur, so Draxler in seiner Einleitung im Katalog, trage nicht nur funktional die Ausstellung, sondern sei als Bedeutungsträger selbst ausgestellt. Auch das Ausstellungsdesign spielt mit Sternes fiktiver Widmung im neunten Buch des Romans. Architektur und Design behandeln zwei der fünf die Ausstellung strukturierenden Elemente. In einer weiteren Sektion geht die Ausstellung dem Verhältnis von Autor und Leser nach und danach geht die Ausstellung, in einem historischen Teil, intermedialen Aspekten nach, die sich ebenfalls auf Sterne berufen können. Nicht zuletzt in der graphischer Gestaltung des Tristram, nimmt Ster-ne die Horazsche Vorgabe dass die Dichtung wie ein Bild sei, auf. Verflechtungen von Literatur und Kunst werden erweitert um Film, Philosophie, Plattencovers und Comic. Als Spiel im Spiel schließlich wurde in der Ausstellung im fünften Teil ein Referenzraum zu früheren Ausstellungen der Secession konzipiert. Einige Künstler fertigten speziell für die Exposition Arbeiten an, zu der sich Leihgaben gesellten. Es ist wie mit dem Roman, nun aber in den künstlerischen Raum transferiert, mal stellen sich Zusammenhänge direkt mal nur noch sehr indirekt ein. Sehr direkt bezieht sich die Ausstellung auf Sterne in einem mit „Ein philosophischer Kringel“ betitelten Teil. So verdeutlicht Sterne seine Erzählbewegungen auch graphisch in mehreren eingestreuten Zeichnungen. Anders verhält er sich mit der Zeichnung von Sterne, die die Bewegung des Stockes von Corporal Trim, dem Diener von Tristrams Onkel, nachempfindet und in Form einer Schlangenlinie erscheint. Damit, so auch der Kurator, spiele Sterne auf eine Formel des englischen Malers und Grafikers William Hogarth (1697-1764) an, die dieser in seiner ästhetischen Abhandlung in „The Line of Beauty“ (Schönheitslinie) behandelte. Die Ausstellung nimmt jene von Sterne gezeichneten Diagramme auf und sucht nach ähnlichen Spuren in Kunst, Wissenschaft und Literatur. Gezeigt werden in den Text ein-gelassene Zeichnungen der Wissenschaftler Gilles Deleuze, Sigmund Freud, Walter Benjamin oder Lacan, eine Arbeit des Künstlers Asger Jorn, deren Zeichenduktus ähnelt der Zeichnung Sternes Zeichnungen zu seinen Erzählbewegungen. Genial ist die Umsetzung eines Zitats von Ludwig Wittgenstein in eine Skulptur durch den Künstler Franz West. Auch in der Gruppen-arbeit von Olia Lialina und Dragan Espenschied „With Elements of Web 2.0“ stellt sich, wie auch in der Arbeit von Marcel Broodthaers „Le Drapeau Noir“ augenfällig eine Beziehung zum Prinzip Shandyismus ein. Anspielungsreich gestaltet Monika Baer ihr Gemälde mit einem Schwein, dem die Nase blutet, brach der Vater im Roman seinem Sohn doch kurz nach der Geburt die Nase. Auch in der Arbeit der Künstlergruppe Bernadette Corporation, gezeigt werden u.a. zwei leere mit schwarzer Farbe gerahmte weiße Seiten, die einen Kurztext enthal-ten, kann direkt ein Verweis auf Sternes weiße Seiten im Tristram gezogen werden.

Gebucht

Buch und Ausstellung sind, im Unterschied zum Hypertext im WWW, geschlossene Einheiten und daher sind in diesen Medien einem Verweis-Netzwerk relativ enge Grenzen gesetzt. Vom Buch zur Ausstellung und wieder zurück ins Buch, wird aber auch eine zweite Grenze der Ausstellung deutlich. Sowohl die Konzeption als auch die Exponate bedürfen über eine Ausstellungsbeschriftung hinaus, erklärender Texte, um den Anspielungsreichtum des Sterne-Draxler-Kosmos zu verstehen. Zum Glück entschied sich Draxler nun nicht einen Shandyismus in zweiter Potenz einzuführen und Ausstellung und Exponate zusätzlich im Katalog zu verrätseln, sondern er schloss, bis auf kleine eingebaute Shandyismen, an gewohnte Strukturierungen von Ausstellungskatalogen an. Es gelingen dabei inspirierende Teile. Dazu zählt der Textbeitrag von Astrit Schmidt-Burkhardt, der dem Witz im Diagramm auf der Spur ist und die Verschränkung von „Diagramm und Witz, Wissenschaft und Kunst“, analysiert. In die erste Rubrik gehören die Zeichnungen von Wittgenstein und Kollegen, denn in ihrer Unbeholfenheit erhellen sie gerade nicht den Sachverhalt, sondern wirken wie eine Karikatur dieses Genres. Einer Linie folgte die Ausstellung jedoch nicht und sie führt zum Illustrator des Tristram, Henry William Bunbury (1750-1811), der die Schrulligkeit des Personals genial in Szene setzte. Der Schriftsteller Horace Walpole beschrieb ihn als „the second Hogarth“, beide zusammen kultivierten die Ironie und gelten als Wegbereiter der Comics. An Hogarth wieder-um knüpfte der Gegenwartsautor Alan Hollinghurst mit seinem Roman „Die Schönheitslinie“ an.
Letztlich zeigt die Ausstellung, nur im ‚alten‘ Medium Buch lässt sich Kohärenz erzeugen. Die gelungenen Katalogbeiträge erzeugen jenen roten Faden, den nicht nur Ariadne benötigt, um sich zu orientieren. Man mag Shaun Regan im Katalogtext nicht ganz zustimmen, dass das Prosawerk Tristram mit „großer Wahrscheinlichkeit dasjenige sei, „das sich am meisten mit den eigenen materiellen Produktionsbedingungen beschäftigt“ habe, zeigt doch ein Forschungsprojekt zum „Vom Schreiben in der Frühen Neuzeit bis 1850“ am Deutschen Seminar der Universität Basel unter Leitung von Martin Stingelin, wie stark viele Autoren des 18. Jahrhunderts materielle Produktionsbedingungen thematisierten, problematisierten und reflektierten. Dies nennt Stingelin eine „Schreib-Szene“. In jedem Fall gelang Draxler eine interessante Ausstellung zu medienästhetischen Themen und er rückte mit Laurence Sterne einen Autor ins Zentrum, dessen paradoxes und umstrittenes Werk noch heute begeistert.
16.5.2008
Sigrid Gaisreiter
Shandyismus. Autorenschaft als Genre. Hrsg. v. Draxler, Helmut. [Tristram Shandy ] 331 S., 16 fb. Fotos, zahlr. meist sw. Abb. 29 x 21 cm. (Projektiv ) Gb Verlag Merz & Solitude, Suttgart 2007. EUR 29,90
ISBN 978-3-937982-17-5
 
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