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Subversion und Malerei am laufenden Meter

In vielen Veranstaltungen wird dieses Jahr an die internationalen Massenproteste von 1968 erinnert und auch wissenschaftlichen Tagungen nehmen sich dieses Themas an. Gelegentlich wird dabei auch auf die Gruppe der Internationalen Situationisten (SI) hingewiesen, die mit den Studentenprotesten, insbesondere in Frankreich verbandelt war. Als deutsche Sektion der Künstlergruppe der SI galt die Gruppe Spur. Diese wiederum war, durch den Künstler Asger Jorn, mit der Gruppe Cobra verbunden. Jorn gilt, wie der Kopf der SI, Guy Debord, als genialer Netzwerker und er war es auch, der in Italien den künstlerischen Autodidakten Pinot Gallizio (1902-1964) entdeckte. Der Zufall will es, dass zum 68er-Jubiläum als Parallelaktion ein kleiner Ausstellungsreigen zu Personen und Gruppen, die mit den 68ern sympathisierten und teilweise, über die Kunst hinaus, gesellschaftliche Utopien entwarfen. Gleich mehrere Kunstinstitutionen konzipierten zu diesen Gruppen Ausstellungen. Dass eine Betrachtung dieser drei Gruppen, Spur, Cobra und SI im Zusammenhang sinnvoll ist, zeigt die Arbeit der Kunsthistorikerin Selima Niggl zu Giuseppe Pinot-Gallizio, dessen Werk in Deutschland relativ unbekannt ist.

Die Gruppen Spur und Cobra

Lange vor dem studentischen Aufbruch 1967/68 traten, nicht als konzertierte Aktion, aber doch vehement, einige europäische Künstler gegen das künstlerische ‚Establishment‘ auf. Die Gruppe Cobra, 1948 in einem Café in Paris gegründet und bis 1951 bestehend, verschrieb sich in der Kunst der völligen Spontanität in radikaler Ablehnung aller überlieferter Kunstformen. Auf ihrer Suche nach der Einheit von Traum und Tat, von Kunst und gesellschaftlicher Utopie, entstand eine explosive Malerei zwischen Art Brut und Informel, die Stilelemente der Volkskunst, archaischer Zeichen und Mythen und abstrakt-figurative Farb- und Formgebungen verbanden. Die Gruppe, zu der Pierre Alechinsky, Constant, Corneille, Lucebert, Christian Dotremont, Eugène Brands, Karel Appel und Asger Jorn gehörten, verstand sich auch als politisch arbeitende Gruppe. Schon der Gruppenname, gebildet aus den Anfangsbuchstaben der Städte Copenhagen, Brüssel und Amsterdam, ist programmatisch zu verstehen, da sie eine internationale künstlerische Zusammenarbeit propagierten. Basierend auf der Sammlung neuerer expressiver Kunst von Gudrun und Peter Selinka, zeigte die Städtische Galerie Die Fähre in Bad Saulgau vom 18.11.2007 bis 13.1.2008 Werke der Gruppe Cobra als gemischtes Doppel mit Werken von Künstlern wie Lothar Fischer, Heimrad Prem, Helmut Sturm und HP Zimmer, die zur Gruppe Spur gehörten und in München beheimatet war. Auch sie verbanden Figuratives mit Abstrakten und auch sie verstanden sich auch als politische Gruppe und propagierten gesellschaftliche Subversion. Hieß die Zeitschrift der Gruppe Cobra „CoBrA“, so die der Spurensuchen „Spur“. Deren Kunst und Ideen galt eine Ausstellung, die ein Jahr, vom 13.7.2006 bis 17.6.2007 durch mehrere Städte, München, Lübeck und Neumarkt in der Oberpfalz, tourte. Dazu erschien ein umfangreicher Begleitband „Gruppe Spur“, an dem, neben den Herausgeberinnen Jo-Anne Birnie Danzker und Pia Dornacher, auch Selima Niggl mitarbeitete. Mit dem Abdruck der Manifeste, Flugblätter und der Spur-Zeitschriften ist es dem Autorenteam gelungen, von der künstlerischen Aufbruchsstimmung Münchens einen lebendigen Eindruck zu vermitteln. So wird im abgedruckten Januar-Manifest von 1961 der gesellschaftlich-subversive Charakter deutlich: „Wer in Politik, Staat, Kirche, Wirtschaft, Militär, Parteien, Organisationen keine Gaudi sieht, hat mit uns nichts zu tun.“ Detailliert werden die künstlerischen Positionen der einzelnen Mitglieder, deren institutionelle Verflechtung und nicht immer konfliktfreie Beziehung zur SI und der kunsthistorisch-gesellschaftliche Kontext beleuchtet. Sehr schön ist an diesem Band, dass die schwer zugänglichen Manifeste abgedruckt wurden. Entstanden ist ein Referenzband zu dieser Gruppe, für die nicht, wie von der SI angedacht, der Primat des Politischen, sondern der der Kunst galt. Letztlich führte diese unterschiedlichen Sichtweisen zum Ausschluss der Spuristen aus der SI; die auch deshalb über die Gruppe erbost war, weil die Künstler im ‚eigentlich‘ abzulehnenden ‚Kunstestablishment‘, herkömmlichen Privatgalerien, ausstellten, allen voran bei der Galerie Otto van de Loo.

Die Situationistische Internationale

Als Parallelaktion zur Ausstellung der Gruppen Spur und Cobra, schickten das Centraal Museum in Utrecht und im Anschluss daran das Museum Tinguely in Basel vom 14.12.2006 bis 11.3.2007 Werke der Situationistischen Internationale, zentriert um deren legendäre informelle Leitfigur, Guy Debord (1931-1994) auf Tour. Die SI bestand von 1957 bis 1972, neben Debord waren auch Jorn und Pinot-Gallizio Gründungsmitglieder. Eher autoritär als libertär führte Debord die SI von deren Zentrale in Paris aus. Allein der Führungsstil, aber auch inhaltliche Differenzen führten zu vielen Ausschlüssen, folglich wechselte die Zusammensetzung ständig. Insgesamt gehörten dem interdisziplinären Projekt 72 europäische, amerikanische und nordafrikanische Mitglieder an. Beteiligt waren an der Untergrundbewegung Theoretiker, Architekten und Kunstschaffende, die, jenseits gängiger Institutionen und Lebensweisen, eine bedingungslos dem gesellschaftlichen Protest verpflichtete Subkultur entwickelte, die jedliches Arrangement mit dem Bestehenden ablehnte. Weder Arbeit, konzentiert in der Parole „Ne travaillez jamais“ (arbeitet niemals), noch die Zusammenarbeit mit bestehenden Institutionen sollte die negativistische Rebellion korrumpieren, die interessante Ideen, so zum Urbanismus, in phantasiereichen Aktionen erprobte. Nach außen zeigte sich eine bunte, bisweilen wilde Truppe, im Innern jedoch tobten zum Teil heftige Richtungskämpfe und letztlich scheiterten an der kompromißlosen Haltung von Debord viele Protagonisten, auch die Spuristen. Trotz aller Konflikte, Erfolg hatte die SI insofern, als sie als Wegbereiter der sich politisierenden Studenten erwies und viele ihrer Aktionen fanden Nachahmer. So nahm die hierzulande in den letzten Jahren bekannt gewordenen Naomi Klein Elemente der SI-Ideen auf. Gelungen dokumentiert der Katalog die Entwicklung der Gruppe mitsamt deren Vorläufern, geht auf die Zusammenarbeit von Künstlern und Theoretikern ein und stellt einzelnen Mitglieder vor. Sowohl Ausstellungs- als auch Katalogtitel „In girum imus nocte et consumimur igni“ (Wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verschlungen) nimmt einen Filmtitel zu einem Film zur SI von Debord auf. Wesentlich knapper und dabei gut lesbar präsentiert Simon Ford Geschichte, den Forschungsstand zur SI und deren anspruchsvolle theoretische Entwürfe. Sehr gut sichtbar werden die verschiedenen Phasen der SI, bei der mal das Politische, mal die Kunst im Vordergrund stand. Ford problematisiert darüberhinaus gerade jene Konzeption, die der Ausstellung zugrundeliegt, die Geschichte der SI auf Debord zu fokussieren. Er gilt als „situationistischer Supermann“, zu besichtigen ist dazu ein Comic der Spuristen aus der zweiten Nummer der Zeitschrift „Spur“.
Weniger humorvoll ging es auf einem Symposion im Januar 2005 im Werkstätten- und Kulturhaus (WUK) in Wien zur SI zu. Ist in den Ausstellungskatalogen häufig die Rede davon, das künstlerische Erbe der SI werde in der Öffentlichkeit zugunsten des Politischen zu wenig beachtet, sehen die Herausgeber, Stephan Grigat, Johannes Grenzfurthner und Günther Friesinger dies genau umgekehrt und positionieren die politischen Ideen der SI als die bedeutsameren im Vorwort. So gehe es auch bei Fragen der Ästhetik „wenig um Geschmack, aber viel um eine bessere Einrichtung der Welt“ gehe. In diesem Duktus sind die Beiträge, zumal in einem schwer verständlichen marxistischen Jargon geschrieben, positioniert. Inhaltlich scheinen die Ideen der SI universell anschlussfähig, da kaum ein aktuelles politisches Thema ausgelassen wird. Leider stecken fast alle Beiträger noch immer im Basis-Überbau-Theorem fest und kommen daher nicht auf die Höhe zeitgenössischer kulturwissenschaftler Forschungen, deren Ansätze sie schon deshalb ablehnen, weil diese sich nur mit „Überbau-Phänomenen“ beschäftigen.

Pinot-Gallizios Malerei am laufenden Meter

Stärker als bisher angenommen war Giuseppe Pinot-Gallizio in die Gruppen Cobra, Spur und SI integriert, so Niggl am Ende in ihrer gut lesbaren Studie. Zu diesem Schluss kommt die Autorin durch eine detaillierte Nachzeichnung der Beiträge von Pinot-Gallizio im Kontext dieser drei Gruppen. Auch sie zeichnet ein Bild von Debord und Jorn als geniale europäische Kunstnetzwerker und Gallizio auch in künstlerischer Hinsicht anregten. Dies war bei Gallizio deshalb von besonderer Bedeutung, da er als Autodidakt, er hatte Pharmazie und Chemie studiert und war Inhaber einer Apotheke, zunächst nur wenige Beziehungen zu Künstlern verfügte, wie sie sich aus künstlerischen Ausbildungszusammenhängen ergeben. Niggl zeigt Gallizio als eine Person mit spontanistischem Naturell, den es nicht in den Naturwissenschaften hielt und der daher schon vor dem Zweiten Weltkrieg in seinem Haus in Albisola / Italien mit verschiedenen Substanzen exeperimentierte. Zur Kunst kam er über den hierzulande völlig unbekannten Künstler Piero Simondo, der sich später als Kunsttheoretiker einen Namen machte. Dazu gesellte sich Jorn, der sich in Alba niedergelassen hatte, das, so Niggl, „in das Rampenlicht der europäischen Avantgarde rückte, da Jorn dort 1953 ein Gegenbauhaus gründete. Im Konflikt mit Max Bill, der die Hochschule für Gestaltung in Ulm gründete und an Bauhaus-Ideen und deren Primat der angewandten über die freien Künste festhielt, drehte Jorn dies Verhältnis um. Es entstand das MIBI, Mouvement International pour un Bauhaus Imaginiste, das später in der SI aufging. Die Beziehung Jorn-Gallizio entwickelte sich als wechselseitige Anregung. Für Gallizio wurde Jorn ein Lehrer, umgekehrt profitierte Jorn von Gallizios Experimentierfreude und das führte zur Gründung eines Experimentallabors, des MIBI, zu dem auch der später bekannte Designer Ettore Sottsass gehörte. Es entstanden Kollektivarbeiten und viele Künstler fanden sich in Gallizios Haus dazu ein. Detailliert zeichnet Niggl deren Aktivitäten nach und würdigt in einem extra Kapitel die Arbeit des Galeristen Otto van de Loo, dessen Galerie zur Drehscheibe europäischer Nachkriegsavantgardisten avancierte. 1959, zwei Tage vor der dritten Konferenz der SI in München, stellte Gallizio bei van de Loo, der auch Jorn nach München geholt hatte, aus und zeigte seine originären Kreationen, die als „pittura industriale“, bekannt werden sollte und die 1958, auf Vermittlung Jorns, bereits in Paris gezeigt hatte. Dabei handelt es sich um Malerei auf Leinwand- und Stoffrollen, die als Meterware verkauft wurde und stilistisch stark vom Informell beeinflusst war. Mit dieser Form strebte, so auch Niggl, Gallizio die Überwindung des klassischen Tafelbilds an und verkörpert wichtige Aspekte der Ideen der SI im Umfeld der Problematik Mensch-Maschine-industrielle Formen der Produktion. Konzipiert war die Ausstellung als Happening. Damit nahm der italienische Künstler Ausdrucksformen vorweg, die erst in den 1960er und 1970er Jahren als eigene Kunstform, Fluxus und Wiener Aktionskunst international bekannt wurde.
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Im Geflecht von Cobra, Spur und SI situierte Niggl einen in Deutschland nahezu unbekannten Künstler, dem in letzter Zeit mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde, da auch die Ausstellung „Kunstmaschinen-Maschinenkunst“, die in der Schirn und im Museum Tinguely gezeigt wurde, auf diesen Pionier hinwies. Deutlich wird auch bei Niggl, aber auch in den anderen Publikationen, wie groß der künstlerische Nachholbedarf in Deutschland in den 1950er Jahren war. Bei Niggl, aber auch im Katalog zu den Spuristen, wird einmal mehr die große Leistung des engagierten Galeristen Otto van de Loo herausgestellt. So brachte ihm sein engagiertes Eintreten für das Informell, die Gruppen Cobra und Spur, auf letztere wies Jorn van de Loo hin, 1963 als einzige deutsche Galerie eine Einladung zum „Premier Salon des Galeries Pilotes“ nach Lausanne ein. Van de Loo war ein Pilot-Galerist, der internationale Anschlüsse herstellte und der, gegen alle Widerstände in München, an den von ihm vertretenen Künstlern festhielt. Erst spät, 2005, wurde seine Arbeit mit einer Ausstellung in der Pinakothek der Moderne in München bedacht. Auch die Publikationen leisten Pionierarbeit hinsichtlich einer noch zu entwerfenden Netzwerkanalyse im Bereich Kunst. Einer der Knotenpunkte ist München, ein anderer ist Alba und in Bezug auf Bücher zur SI ist es die Edition Nautilus in Hamburg, die noch weitere Bücher zu dieser Gruppe verlegte.
13.8.2009

Weitere Titel:
Selima Niggl Pinot Gallizio. Malerei am laufenden Meter. Gb., 171 S., 39 s/w und 32 fb. Abb., Edition Nautilus, Hamburg 2007. ISBN: 978-3-89401-544-2. EUR 28,00

Jo-Anne Danzker / Pia Dornacher (Hrsg.) Gruppe Spur. Geb., 424 S., 280 s/w und 99 fb. Abb., Hatje-Cantz, Ostfildern-Ruit. Verlag 2006. ISBN: 3-7757-1799-4. EUR 45,00

Die Situationistische Internationale (1957-1972). Von Agamben, Giorgio /Beaudrillard, Jean/Enzensberger, Hans M /Kaufmann, Vincent /Letaillieur, Francois /Obrist, Hans U/Sloterdijk, Peter. Gastherausgeber: Stahlhut, Heinz /Steiner, Juri /Zweifel, Stefan. 2006. 256 S., 100 sw. u. 100 fb. Abb. 29 x 22 cm. JRP Ringier Kunstverlag, Zürich 2006. Pb EUR 29,00 ISBN: 978-3-905770-18-0 (1957-1972). Von Agamben, Giorgio / Beaudrillard, Jean/ Enzensberger, Hans M /Kaufmann, Vincent /Letaillieur, Francois /Obrist, Hans U/ Sloterdijk, Peter. Gastherausgeber: Stahlhut, Heinz / Steiner, Juri / Zweifel, Stefan. 2006. 256 S., 100 sw. u. 100 fb. Abb. 29 x 22 cm. JRP Ringier Kunstverlag, Zürich 2006. Pb EUR 29,00 ISBN: 978-3-905770-18-0
Sigrid Gaisreiter
Ford, Simon: Die Situationistische Internationale. Eine Gebrauchsanleitung. 224 S., zahlr. sw. Ill.. (Kleine Bücherei f. Hand u. Kopf 58) Edition Nautilus, Hamburg 2007. Ebr EUR 14,90
ISBN 3-89401-545-4   [Edition Nautilus]
 
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