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Voyeurismus in der Kunst

Das Buch erscheint äußerlich zurückgenommen: Ein Augenpaar blickt durch die ansonsten geschlossenen Lamellen einer Jalousie. Die Pupillen sind direkt auf den Betrachter gerichtet. Was sich auf den ersten Blick dermaßen zugeknöpft präsentiert, erscheint im Innern von keineswegs puristischem Zuschnitt. Peter Springer eröffnet als erster Kunsthistoriker den Schauplatz voyeuristischer Einblicke in der Kunst, und dieser reicht von Stundenbuchminiaturen der Bathseba im Bade über das auch von Rembrandt geschätzte Thema von Jupiter und Antiope und Diana und Aktaion bis hin zu William Hogarth´ „Boys peeping at Nature“. Die ikonographischen Standardthemen des heimlich oder halb-öffentlich beobachteten Akts, allen voran natürlich Susanna im Bade, faßt der Autor in konzentrierten Kurzmonographien zusammen: Es sind 15 an der Zahl, wobei schon so von der Mythologie losgelöste Topoi wie der Astloch- und Schlüssellochgucker mitzählen. Relativ schnell ist das klassische Repertoire also erschöpft. Und so schreibt Werner Hofmann in seinem Vorwort denn auch: „Ich gestehe, dass mich der Bildteil des Buches zunächst mehr interessierte (…). Beim Durchblättern der Abbildungen kamen mir einige Gedanken.“ Diese Gedanken zielen auf Distanz und Annäherung. Den klassischen Anlässen folgen die Fallstudien von Goya bis hin zu Jeff Koons. Fall der Fälle ist auch hier der Champion: Der alte Picasso und sein theatrum mundi haben den ersten Rang oder, passender gesagt, Picasso ist auch auf diesem Gebiet der Matador. Ob der Altmeister als Maler „the virgin canvas“ attackiert (S. 188) oder, ob er eher vor der Überfülle erotischer Einblicke resigniert, ist eine von Springer wohlabgewogene Zentralfrage, die er, wie seine gesamte Darstellung überhaupt, durch zahlreiche Zitate stützt.
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Auf die „klassischen Anlässe“ und die Fallstudien, die sich beide noch im Bereich des Kanons der etablierten Kunstgeschichte bewegen, folgen „Weiterungen“: Zunächst Reflexionen und Reflexe, dann Eigenschaften und Wertungen. Intimität ist längst kein Geheimnis mehr, und so kann Springer sich nur zu der Erkenntnis „Wir sind alle Voyeure“ durchringen. Der uns allen von den Medien aufgezwungene Tabubruch gibt ihm Recht. Ob der „Blick in Blaubarts Zimmer“ (S. 259) in diesem Ausmaß allerdings ein Urwunsch aller Menschen ist oder diesem anerzogen oder doch großenteils aufgedrängt wurde, mag dahinstehen. Sicherlich ist ihm nicht mehr zu entkommen. Manchmal glaubt man, den Autor der Fülle der Aspekte erliegen zu sehen, eine Reizüberflutung scheint einzutreten, die dem Thema selbst eigen zu sein scheint: Bismarck auf dem Totenbett und Saddam Hussein in Unterhose und eine Anatomische Venus von 1780 und Zulus bei Hagenbeck und ein Obdachloser in Tokio. Aber immer regiert der Autor seine Themen, waltet mit ihnen, weiß, dass das Bismarck-Photo erst zwei Generationen später publiziert wurde, aus den Gerichtsakten gegen die Urheber übrigens, und dass selbst Lenbach die Abnahme einer Totenmaske verweigert worden war, um den Bismarck-Mythos nicht zu zerstören.
„Die Wonnen des Gewöhnlichen“ haben am Ende jeden Rest von Dignität oder auch nur Seriosität hinweggespült, und der geneigte Leser beginnt zu verstehen, daß der Begriff Voyeur erst etwa um 1880 seine negative Konnotation erhielt. Was sich schließlich zwischen „Big Brother“ und „Körperwelten“ abspielt, läßt eine solche Bilder- und Assoziationsfülle auf ihn hereinbrechen, daß man sich noch ein anderes Buch von Peter Springer geschrieben wünscht: Das des ungemalten Meisterwerks, des nicht-sichtbaren Bildes, der betrachterlosen Welt statt des allgegenwärtigen Versteckseins von Beobachtern. Und man wünscht sich sehnlich dorthin.
Interessanterweise schließt er seine Untersuchung über den Voyeurismus in der Kunst nicht mit einer erotischen, sondern mit einer medizinisch-anthropologischen Coda: Körperwelten und wesenlos gewordene Körper lassen uns auf den letzten Seiten erschauern.
25.10.2008

Jörg Deuter
Springer, Peter: Voyeurismus in der Kunst. 2008. 450 S., 300 sw u. 8 fb. Abb. 27 x 21 cm. Gb. Dietrich Reimer Verlag Berlin 2008. EUR 49,00
ISBN 978-3-496-01390-7   [Dietrich Reimer Verlag]
 
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