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Das Kollektiv – Formen und Vorstellungen gemeinschaftlicher Architekturproduktion in der DDR.

Zusammen sind wir stärker – das hört man oft, aber Berufswelt und Gesellschaft sind auf den Einzelkampf ausgerichtet. Dass es in sozialistischen Systemen anders gehen kann zeigt die beeindruckende und durchweg spannende Fallstudie „Das Kollektiv“ am Beispiel zahlreicher Bauprojekte der DDR. Kulturhäuser (die Staatsoper Unter den Linden in Berlin oder das Haus der Kultur und Bildung Neubrandenburg), Schulen, Wohnhäuser (das Fünfgiebelhaus in Rostock) und viele weitere Bauten (die Geraer „Zitronenpresse“ oder der Leipziger Bowlingstreff) entstanden hier in einer Form der Zusammenarbeit, die Machtverhältnisse nicht mehr hierarchisch aushandelte, sondern im Sinne einer lösungsorientierten Gesamtstruktur anordnete und immer wieder neu justierte. Dass dabei auch Geschlechterverhältnisse ins Wanken kamen ist ein weiterer Teil der Entwicklung: ein Viertel der DDR-Architekten waren Frauen, in der BRD waren dies nur 10 Prozent. Aber weder ist das Ganze einfach gewesen, noch immer stringent, es war nicht ausschließlich erfolgreich und keineswegs frei von Rückschlägen.
Die oben genannten (und weitere) Fallbeispiele, die in der Publikation besprochen werden, geben jeweils einen guten Eindruck von den Kämpfen ab, die zwischen den Ebenen der Verwaltung, den Individuen und innerhalb der politischen Gremien ausgefochten wurden. Wenn etwa deutlich wird, dass ein älterer „Meisterarchitekt“ wie Richard Paulick keineswegs gewillt war, Kontrolle abzugeben (Staatsoper Berlin, Anfang der 1950er Jahre), so spricht das Bände. Es macht einen Generationenkonflikt innerhalb der Sozialisten deutlich, zeigt, wie stark die Aufbruchsgesellschaft der frühen Nachkriegsjahre von bürgerlichen Vorstellungen durchtränkt war und wie sich „tätige Männer“ selbst sahen, nämlich als Künstlerindividuen, denen weitere Personen zuzuarbeiten hätten. Dreißig Jahre später sah das dann natürlich anders aus, sodaß in den 1980er Jahren bisweilen eine „Autorschaft“ hinter den Projekten der Kollektive regelrecht verschwand.
Das Besondere am vorliegenden Band ist seine Vielschichtigkeit. Hervorgegangen aus einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekt am Institut für raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner bei Berlin, auf- und umgesetzt gemeinsam mit der Uni Bamberg, gelingt es den Autoren – ebenfalls ein Kollektiv – das in den Blick genommene Phänomen auf ganz unterschiedlichen Ebenen zu erörtern. Die Bandbreite reicht von Fallbeispielen bis zu ganz allgemeinen Fragen: Welche Vorgeschichte hatte die Organisationsform Kollektiv in der Architektur vor der DDR? Welche Gesetze (im juristischen Sinne) lagen dieser Arbeitsweise zugrunde? Wie verändert die Gemeinschaftsarbeit den kreativen Prozess? Wie erfolgte die Verzahnung mit der Bauwirtschaft und den ausführenden Gewerken? Wie inszenierten die Medien Architekturkollektive? Über das historische Interesse an der DDR hinaus ist die vorliegende Studie auch für die Gegenwart bedenkenswert. Sie zeigt, dass es jenseits des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs organisatorische Alternativen gibt, deren Potential für das kreative Planen und Bauen weiter fruchtbar gemacht werden können.

03.02.2024
Christian Welzbacher
Das Kollektiv. Formen und Vorstellungen gemeinschaftlicher Architekturproduktion in der DDR. Hrsg.: Engler, Harald; Herold, Stephanie; BrĂĽnenberg, Stefanie; Stackmann, Sophie; Wilks, Scarlett; Fordtran, Dirk Florian. 352 S. Abb .24 x 17 cm. urbanophil Verlag. Berlin 2023. EUR 36,00. CHF 40,00
ISBN 978-3-9824959-0-3
 
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