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9645 Kilometer Erinnerung

Waren wir nicht alle schon einmal auf den Spuren unserer Eltern und Großeltern unterwegs, zumindest im Fotoalbum? Helena Schätzle hat mit diesem Text- und Fotoband weiter und tiefer als die meisten von uns nach solchen Spuren gesucht.
Fündig geworden ist sie im Hades altgewordener Zeitgeschichte, im Zweiten Weltkrieg.

9.645 km Erinnerung. 9.645 km Krieg und Flucht. 9.645 km Spurensuche. Die Enkelin auf Wegen und Umwegen des Großvaters, 1942 bis 1945 Soldat in Rußland, Polen und Tschechien. Kriegsgefangener, nach monatelanger Flucht aus Rumänien über Ungarn und Österreich zurück im heimatlichen badischen Markdorf. Einer von zweien seines Jahrgangs. Soldat geworden waren 12.

Ihre Erlebnisse auf Kriegs- und Fluchtwegen kontrastiert die Autorin mit Interviews (2010) zu orts- und zeitgleichen Erfahrungen damaliger Feinde, Soldaten, Zivilisten, Kinder: die, alle, hungern, betteln, frieren, sich verkleiden oder verstecken mußten, verletzt, vergewaltigt, bombardiert, erschossen wurden. Und nur manchmal, selten, wird geheilt, geholfen, gelacht, gibt es genügend Brot. Dann der Rückzug aus Rußland und die Kriegsgefangen-Flucht. Jetzt werden die Angreifer zu Gejagten, Hungernden, Verletzten, Erschossenen. Die Schilderungen in beiden Erzählsträngen unterscheiden sich nun kaum mehr, fließen zusammen wie jene breiten Wegspuren auf dem schwarz-weißen Einbandfoto die, im Vordergrund mehrspurig breit, schmaler werdend im Endlos verschwinden.

Auch die hier abgedruckten Fotografien des Großvaters und die seiner Feinde sind damals schwarz-weiß. Und die farbigen Fotografien der Spurenreise von 2010, motivisch auf Landschaften und Porträts alter Leute reduziert, scheinen sich beim Betrachten grau zu färben: Alleine sitzen sie auf Stühlen, Sofas, in Sesseln, nachdenklich, in ihre Erinnerungswelten gekehrt, fast abweisend, statuarisch. Gelebte Gesichter, in denen sich die Melancholie erinnerten Abschiednehmens zu spiegeln scheint. Fast immer seitwärts gewandt bleiben ihre Blicke im Zimmer, erreichen durch meist vorhangverhangene Fenster das unsichtbar bleibende Draußen nicht. Und doch verbinden sich hier Drinnen und Draußen durch so fotografierte Landschaften: Sandige, schlammige Wege, ungepflegte Felder, Natur im Krieg mit Betonruinen und rostendem Eisen und fast immer unter einem dunklen Horizont. Unwirtliches, lebloses Land. Es scheint alleine gelassen, müde und vergessen so wie die porträtierten Alten. Alle kräftige Farbe, Vitalität, fehlt. Auch hier.

Historische und fotografische Gegensätze, Kontraste erweisen sich als scheinbar. Ob dies die Botschaft dieser Fotografin ist bleibt unbestimmt, denn zu ihrer Arbeitsweise, ihren Methoden und Zielen findet sich in diesem Buch kein Wort. Der blanken Aussagekraft von Texten und Fotografien, typographisch exzellent, wird hier ein wenig zu sehr vertraut: Viele Personenporträts lassen sich keinem Text zuordnen, andere nur mühsam dem in anderen Buchabschnitten. Eine ärgerliche Spurensuche in diesem subjektiv stimmigen Text- und Fotoband, in dem familiäre, nationale und europäische Spuren zusammenfließen zu einem berührenden Gedenkbuch für eine geschundene Generation.
Von der Stiftung Buchkunst, Frankfurt, als eines der „schönsten deutschen Bücher 2013“ ausgezeichnet.

6.10.2013
Wolfgang Schmidt, Berlin-Friedenau
9645 Kilometer Erinnerung. Schätzle, Helena. Dtsch./Engl. 168 S., 120 fb. u. sw. Fotos. 28 x 22 cm. Leinen. Nimbus Verlag, Wädenswil Schweiz 2013. EUR 38,00. CHF 48,00
ISBN 978-3-907142-71-4
 
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