KunstbuchAnzeiger - Kunst, Architektur, Fotografie, Design Anzeige Verlag Langewiesche Königstein | Blaue Bücher
[Home] [Foto, Film, Medien] [Rezensionen] [Druckansicht]
Themen
Recherche
Service

[zurück]

Anna Lehmann-Brauns – Abgründe. Überall Abgründe

Das Werk der Berliner Fotokünstlerin Anna Lehmann-Brauns folgt schon seit vielen Jahren einem spannenden Konzept: Stets sind es Kulissen, bühnenartige Szenerien, welche Lehmann-Brauns interessieren. Das war schon vor beinahe zwanzig Jahren so, als sie kleine Interieurs baute und diese fotografisch inszenierte.

Ihr neues, jetzt im Distanz-Verlag erschienenes Buch, stellt aktuelle Bilder vor. Fotografien, die sich einreihen in diese Entwicklungsgeschichte einer besonderen Künstlerin, von der Dr. Sabine Ziegenrücker in ihrem Buchbeitrag ganz zu Recht behauptet, ihre Bildwelt besitze „einen Zauber im Übergangsbereich vom Alltäglichen zum Mysteriösen“. Ein Text von Ziegenrücker führt neben einem weiteren von Dr. Matthias Harder in ein Werk ein, das sich stets mit der Idee des Raumes als Ort von Erinnerung beschäftigt. Nicht so sehr das, was da ist, interessiert die Künstlerin augenscheinlich. Sondern das, was einmal war – oder gewesen sein könnte.
Wie war das damals? Fragen ihre menschenleeren Interieurs und fallen ins Auge. Leuchten, strahlen, lassen Farben glänzen, irritieren den Blick. Wir sehen Orte, in denen noch ein früheres Leben als Erinnerung durchscheint, die eine Sinnlichkeit in sich tragen, die aus einer anderen Zeit herüberreicht: Hotellobbys, Bars, Kinos, Restaurants oder andere sehnsuchtsvolle Orte zeigt sie. Stets sind sie menschenleer, doch ist der Mensch gerade in seiner Abwesenheit präsent. Was spielte sich früher hier ab, auf diesen Bühnen der Kommunikation? Jetzt ist es still. Ganz still.

Anna Lehmann-Brauns ist (auch wenn sie als Motiv ihrer Arbeit angibt, es wäre ihr wichtig, die Dinge zu konservieren) sicher keine dokumentarische Fotografin. Das Subjektive ist ihr wichtig – und sie lässt geheimnisvolles Licht durch ihre Bilder strahlen. Künstliche Räume markierten den Beginn ihrer Karriere als Fotokünstlerin und auch in einer neueren Serie zeigte sie Künstliches: Filmkulissen einer Telenovela.
Sabine Ziegenrücker hat darauf hingewiesen, dass es die Begriffe der „Erinnerung“ und der „Fantasie“ sind, die mit diesem Werk und diesen Orten ganz eng in Verbindung stehen. In Verbindung zu diesen „Sehnsuchtsräumen“ – so nennt die Künstlerin ihre Orte selbst. Wir finden Erinnerung und Fantasie auf regennasse Straßen, im Schwimmbad, auf einer Kegelbahn oder vor einem erleuchteten Bühnenvorhang. Filmsets sind das, glimmende, schaurig-schöne, surreale Szenerien.

Die ganz neuen Bilder, die das jetzt erschienene Buch vorrangig zeigt, sind in Polen entstanden, in alten Produktionsstätten für bunte Figuren aus Fieberglas, die in Vergnügungsparks, Kleingärten und auf Kinderspielplätze zum Einsatz kommen. Man wundert sich, dass diese verstaubten altmodischen Objekte noch Abnehmer finden – es sind märchenhafte Gestalten, die einer anderen Zeit entsprungen scheinen.
Lehmann-Brauns‘ Interesse für diese sonderbaren Figuren erinnert an die Liebe, welche die Surrealisten solchen künstlichen Geschöpfen wie Puppen und Masken entgegenbrachten, doch verweisen die entrückten, farbenprächtigen Bilder auch gleichzeitig auf die unsäglichen Produktionsbedingen, wie die Künstlerin berichtet: „Lackstaub, der beim Lackieren der Figuren mit der Spritzpistole entsteht, liegt wie eine zauberhafte Staubschicht über der ganzen Szenerie, doch der pastellfarbene Staub, der wie aus einem Märchenland wirkt, legt sich auch genauso fein auf Lungen und Bronchien.“

Das Geheimnis in den Bildern von Anna Lehmann-Brauns verweist stets auf etwas, was außerhalb des Gezeigten liegt. Das verleiht ihren Fotografien eine Relevanz, wie auch bei ihrer neuen Serie: Die brüchige soziale Realität verbindet sich mit den Rätseln des Ortes: Giftiger Fiberglasstaub legt sich als wundersame, pastellige Staubschicht auf „Dick und Doof“, auf ein rosarotes Schwein oder eine Giraffe, wie die Künstlerin sagt: „Die Arbeiter tragen keine Schutzmasken, der scharfe Geruch der hochgiftigen Lacke und Härter schwängert schon die Luft um das Gebäude herum, in den Produktionsstätten selbst ist er unerträglich.“ Ein giftiges Märchenland. Abgründe. Überall Abgründe.

08.01.2016

Marc Peschke
ANNA LEHMANN-BRAUNS. Hrsg.: Harder, Matthias. Dtsch/Engl. 96 S. 96 fb. Abb. 32 x 24 cm. Gb. Distanz Verlag, Berlin 2015. EUR 29,90. CHF 38,90
ISBN 978-3-95476-112-8
 
© 2003 Verlag Langewiesche [Impressum] [Nutzungsbedingungen]