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Theorie der Fotografie

Die in diesem Band versammelten 45 Texte zur „Theorie der Fotografie zwischen 1995 und 2022“ ist bislang das letzte Element einer Reihe von Publikationen zur Theorie der Fotografie, die einst von Wolfgang Kemp in den siebziger Jahren gestartet wurde und jetzt von Peter Geimer bis fast in die Gegenwart weitergeführt wurde. Geimer ist es nun hervorragend gelungen, die inzwischen unübersehbar gewordene Menge von Fototheorie-Texten in sieben sinnvoll strukturierten Kapiteln kurz kommentiert zugänglich zu machen. Die Themenfelder reichen dabei von der anhaltenden Rezeption der Theorie Roland Barthes, der Diskontinuität zwischen analoger und digitaler Fotografie, den Relationen zwischen Fotografie und Kunst, den sozialen Gebrauchsweisen, Fragen der politischen und besonders ethischen Evidenz von bestimmten Bildkulturen bis hin zu aktuellen Problemfeldern wie Social Media und Fragen der Archivierung und Speicherung. Dass auch dieser Band wie seine vier Vorläufer zu einem Standardwerk avancieren wird, ist wohl selbstverständlich.

Wie sich die „alte“ chemische Licht-Natur des fotografischen Bildes längst in digitale speicher- und veränderbare Datenpakete transformiert hat, wird bereits im wichtigen 2. Kapitel dieses Bandes in vieler Hinsicht deutlich. Heute werden, so der englische Künstler und Theoretiker Daniel Rubinstein, Daten entsprechend bestimmte Regeln verbreitet, einige von ihnen „als Bild an den Bildschirm, einige als Töne an die Lautsprecher und einige als Text an den Drucker gesendet“. Fotografien sind längst nicht mehr zufällige Schnappschüsse von Wirklichkeiten, sondern „Matrizen aus Signalen und Datenpaketen“. Vor allem aber verändert sich mit der digitalen Natur der Fotografie die Notwendigkeit auch eine neue Sprache der Theorie sowie eine aktuelle Ethik im sozialen Umgang mit Fotografien zu erzeugen. Die Grenzen zwischen erweiterter sozialer Realität und digital erzeugter Bildrealität werden heute und in Zukunft in einem unbekannten Ausmaß ineinander verschmelzen – auf diese nahe Zukunft wird auch Fototheorie reagieren müssen. Interessiert erfährt der Lesende, dass gerade Wolfgang Kemp in einem Text aus dem Jahre 2011 sehr vorsichtige, konservativ klingende Gedanken formulierte: „Das gepixelte Bild ist ein Novum, aber kein grundstürzendes, wenn wir die optische Wirkung berücksichtigen.“ Fotografie sei, so Kemp, ein per se täuschendes Medium. Das Fotografien konsumierende Publikum ist also aufgefordert, sich mit den Täuschungen unserer Welt auseinanderzusetzen. Ein großes Plus dieser Testsammlung besteht darin, dass sie die Differenzierung der neuesten Fototheorie in Beziehung etwa zur Soziologie, Technikkritik, Anthropologie und Bildwissenschaften überdeutlich hervortreten lässt. So ist Susan Sontags 2003 publizierter, wichtiger Text „Das Leiden anderer betrachten“ nicht nur eine Selbstkritik mit ihrer Schrift „Über Fotografie“ (1978) sondern vor allem auch eine Auseinandersetzung mit Texten wie etwa der ikonischen Schrift Guy Debords „Die Gesellschaft des Spektakels“. Fotografien, so Sontag enthalten implizit die Option, die Welt aus einer künstlichen Distanz wahrzunehmen, darüber nachzudenken, wie unkritisch und unpolitisch wir die Welt einsortieren, indem wir Fotografien menschlichen Leids begegnen. Gerade das Wahrnehmen von Kriegs-Fotografie umfasst immer auch ein Moment der Begegnung des menschlichen Geistes mit sich selbst, das über die Fotografie selbst hinausweise.

Wer sich selbst näher kennen lernen will, muss sich also der Gewalt der Fotografien aussetzen, die heute auf uns einwirken. Dass wir heute gefilmten und fotografierten Kriegsnachrichten aus der Ukraine oder dem Gazastreifen auszuweichen versuchen, ist ein aktuelles Beispiel, wie unmenschlich Menschen heute auf das Leiden anderer reagieren – und einfach versuchen wegzusehen. Fotografie ist heute vieles und dabei alles gleichzeitig: Dokument globaler Zerstörung und Option unendlicher sozialer Reaktionsweisen.

Wie Fotografie als Medium menschliche Basisaffekte wie Faszination gegenüber Gewalt oder Mitleid gegenüber Opfern triggert und so das existentielle Berührtwerden des menschlichen Blicks durch die Begegnung mit Fotografien in den Mittelpunkt gerät, ist vor allem auch Thema in einem Text Judith Butlers, der wohl zu den relevantesten und derzeit aktuellsten in diesem Band gehört; „Es ist nicht leicht den Rahmen sehen zu lernen, der uns blind macht gegenüber dem, was wir sehen.“ (S. 279) Kurz und bündig: Fotografien zeigen, was sie zeigen - aber alles andere, latent anwesende, gewalttätige verschweigen sie und vor allem zeigen sie nicht, wie wir uns diese fotografischen Welten aneignen. Dieser strukturelle Aspekt von Fotowahrnehmung hat sich seit dem Jahr 1839 kaum verändert ...

Zu den großen Vorzügen dieses Bandes gehört es zweifelsohne, dass sich der Herausgeber Peter Geimer ähnlich wie vor ihm Wolfgang Kemp, die Texte dieser Sammlung, nur kurz aber dafür äußerst reflektiert in ihrer theoretischen Machart, Relevanz und Aktualität einordnet und sich dabei bewusst einer inhaltlichen Bewertung enthält.

Es sind wir, die mitdenkenden LeserInnen, die diese Textsammlung wie einen Werkzeugkasten des Theoretischen weiternutzen können. Dass dabei das extrem aktuelle Thema „KI und Fotografie“ in dieser Sammlung nicht mehr aufgenommen werden konnte, ist allein dem Zeitpunkt der Publikation geschuldet. Der Band Fototheorie VI, der hoffentlich in 10 (?) Jahren erscheinen wird, wird sicher diese Medienrevolution abbilden werden....

01.11.2023

Michael Kröger
Theorie der Fotografie. Band V 1996-2020. Anthologie mit 40 Essays. Geimer, Peter. Deutsch. 320 S. 23,5 x 16,5 cm. Schirmer & Mosel, MĂĽnchen 2021. EUR 49,80. CHF 57,30
ISBN 978-3-8296-0925-8
 
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