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Philologie des Auges

"Die folgende Untersuchung versteht (...) Literatur als Teil einer historischen Mediengeschichte, die notwendig auch andere Bereiche, wie etwa die Photographiegeschichte einschließt . (....) (es) geht weder um die Photographie, noch um eine zu erstellende Theorie der Photographie, sondern vielmehr um die historische Darstellung der komplexen Beziehungen, die die Photographie mit verschiedenen Wissensbereichen unterhält" (S. 11f.) Mit anderen Worten: es geht dem Autor Bernd Stiegler in diesem Band nicht, wie etwa in Wolfgang Kemps mehrbändigen Theorie der Photographie um eine mediale Bestimmung des Mediums Photographie, sondern um die Wechselverhältnisse zwischen den Medien Photographie und Literatur. Dass in dieser Perspektive eine Geschichte der Theorie der Photographie vom Autor gar nicht beabsichtigt ist, ist eine Sache. Eine andere ist die Tatsache, dass der Autor damit zugleich den Diskurs der Photographie als ein eigenständiges Medium der Kommuniktion zu gut wie ausgeblendet hat. Der mit Abstand schwächste Teil der Untersuchung ist denn auch der erste, der wohlklingend mit "Photographiegeschichte als Theorie- und Wahrnehmungsgeschichte" überschrieben ist. Hier erreicht Stiegler sein eigenes, sehr anspruchsvolles Ziel, "Photographietheorien in ihrer historischen Vernetzung"(S. 19) vorzustellen, offensichtlich nicht. Stiegler kommt auf zeitgenössische Phototheorien so gut wie nicht - und vor allem nie im Detail - zu sprechen, sondern zieht es vor, technische Objekte wie etwa die Stereoskopie und deren visuelle Erscheinungsweisen quasi selbst sprechen zu lassen. Grundsätzlich neue Erkenntnisse sind hier, eingebettet in einer durchaus imponierenden Fülle von penibel zitierter Sekundärliteratur, nicht zu entdecken. Am Rande sei bemerkt: Roland Barthes auf die Photographie bezogenen Texte "ohne Frage" einfach zur "Metatheorie" zu stilisieren und dann gleichzeitig Wolfgang Kemps bedeutende Arbeiten zur Phototheorie (insbesondere seine dreibändige Theorie der Fotografie) einfach zu verschweigen, erscheint - vorsichtig formuliert - dem komplexen Thema nicht angemessen zu sein.
Anders verhält es sich nun mit dem zweiten Teil "Literatur und Photographie" (S. 145 ff.); hier gelingen Stiegler überraschende Erkenntnisse und Einsichten in die Geschichte eines literarisch reflektierten Mediums, das zur zunehmenden Selbstreflexion ihrer Nutzer Anlaß gab. An der Lektüre von Texten so unterschiedlicher Autoren wie Nerval, Gautier, Flaubert, Maupassant, Jules Verne, Strindberg, Heyse, Stifter oder auch eines so vergessenen Autors wie Ludwig Pfau, verdeutlicht der Autor, wie die Realismus- und Naturalismusdiskussion in Deutschland und Frankreich implizit und explizit durch die Photographie beeinflußt wurde. Aufschlußreich ist zu verfolgen, wie zentrale Aspekte des in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts favorisierten Neuen Sehens bereits in der literarischen Ästhetik des 19. Jahrhunderts vorformuliert wurden. Der Blick auf die scheinbar magisch wirkende Nähe eines Details, das im Medium Photographie selbst angelegte Korrespondenzverhältnis von Nähe und panoramatischer Distanz, die durch das Medium provozierte Fähigkeit in Bildern komplexe Formen zu synthetisieren und unwillkürliche Aufmerksamkeit zu evozieren - hier kommt nicht nur der Philologe sondern auch und gerade der medienhistorisch interessierte Leser/Betrachter auf seine Kosten. Schon fast detailversessen liest Stiegler die entsprechenden Texte, in denen der Diskurs des Photographischen aus dem 19. Jahrhundert rückblickend ein Bild ihrer widersprüchlichen "Natur" dokumentiert - ein Gebiet, das der heutige Historiker nur interdisziplinär bewältigen kann. Die Photographie ist, worauf Stiegler allerdings nicht eigens hinweist, ein Medium, das Mangel und Abwesenheit (aber auch Angst und Betrachterlust) offenbaren kann. Rezeptionsästhetische Aspekte werden bezeichnenderweise eher in Exkursen abgehandelt. So kommt der Autor an unterschiedlichen Stellen - etwas unvermittelt - auf Aspekte der Mortifizierung des Lebendigen zu sprechen, die in der Geschichte der Photographie von Beginn an registriert wurden. Gerade mit diesen Exkursen (Die Rückkehr der lebenden Toten, S. 195 ff; Eine tote Kunst, S. 225ff; Der Tote als Photoapparat, S. 388ff) erweist sich Stieglers Text eigenartigerweise auf der Höhe seiner Zeit. Jeweils eigene Kapitel widmet der Autor beispielsweise der photographischen Illustration literarischer Texte (S. 294ff.) und der Wechselwirkung zwischen Halluzination und literarischer Einbildungskraft (S.373ff.) - Bereichen, in denen es eher um Erweiterungen menschlicher und literarischer Wahrnehmungsleistungen denn um spezifische mediale Charakteristika und "Redeweisen" des photographischen Bildes geht.
Stieglers "Philologie des Auges" führt nicht unbedingt zu einer entsprechenden Erhellung des Geistes. Photographiegeschichte hat sich in ihren inspirierendsten Versuchen (Benjamin, Barthes, Kemp u.a.) immer als eine Selbstreflexion verstörender Wahrnehmungs- und Chocerfahrungen präsentiert - in Stieglers Text sind solche Erfahrungen und Momente existenzieller Inspiration weder thematisiert noch formuliert. Seine Untersuchnung (als Habilitationsschrift verfaßt) erscheint in mancher Hinsicht verspätet, anderseits auch wiederum zeitgemäß: nach den stark theorieorientierten Diskursen der Photographie in den achtziger Jahren markiert diese Geschichte der photographischen Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert insgesamt eine beeindruckend umfangreiche Syntheseleistung, der im Kontext einer künftigen Geschichte der Interdisziplinarität sicherlich eine wissenschaftshistorische Bedeutung zukommen wird.
1.3.2002

Michael Kröger
Stiegler, Bernd: Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19.Jahrhundert. 2001. ca. 460 S., 96 Abb.. Kt DM ca 98,-
ISBN 3-7705-3627-4
 
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