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Kunsthistorikerinnen 1910 – 1980

Jede Fachwissenschaft beginnt zu gegebener Zeit, sich auf ihre eigene Geschichte zu besinnen und ihre eigene Geschichte zu schreiben. So hat sich auch die noch verhältnismäßig junge Kunstgeschichte im Laufe des 20. Jahrhundert mit ihrer eigenen Entstehungs- und Wirkungsgeschichte auseinandergesetzt. Für den deutschen Sprachraum galt Udo Kultermanns erstmals 1966 erschienene und zuletzt 1996 neu aufgelegte „Geschichte der Kunstgeschichte“ mehr als einer Generation von Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern als Standard- und Nachschlagewerk. Während Kultermann in der Neuausgabe seiner Wissenschaftsgeschichte zumindest auch den Beitrag – vor allem amerikanischer – Kunsthistorikerinnen würdigte, blieben biografische Nachschlagewerke noch lange bei der Darstellung einer nahezu ausschließlich von Männern geprägten Fachwissenschaft. Heinrich Dillys 1990 erschienener Klassiker „Altmeister moderner Kunstgeschichte“ kannte, wie der Titel des Bandes schon suggeriert – von Bernard Berenson bis Heinrich Wölfflin – nur männliche Vertreter des Faches; Metzlers „Kunsthistoriker-Lexikon“ verzeichnete in seiner Erstauflage unter 200 Biographien nur eine einzige Frau, und die 2007 erschienene Anthologie „Klassiker der Kunstgeschichte“ begnügte sich unter den 40 ausgewählten Repräsentanten erneut mit männlichen Fachvertretern.
Es war daher seit Langem überfällig, den elliptischen Werken Ergänzendes an die Seite zu stellen. Im dafür prädestinierten und auf Kunstgeschichte spezialisierten Reimer Verlag erschien nun der Band „Kunsthistorikerinnen 1910-1980“, herausgegeben von K. Lee Chichester und Brigitte Sölch. Dieser versammelt 23 Portraits wegweisender Vertreterinnen des Fachs, die jeweils mit einem kurzen Essay sowie einem exemplarischen Textbeispiel vorgestellt werden. Der Band ermöglicht dadurch sowohl Wiederbegegnungen mit prominenten Namen – wie Rosa Schapire, Gisèle Freund oder Lotte H. Eisner – als auch Entdeckungen vergessener und bislang kaum gewürdigter Fachkolleginnen. Als Beispiel sei hier nur Hedwig Fechheimer genannt, die von 1913 bis in die Weimarer Republik eine der kenntnisreichsten Interpretinnen und Vermittlerinnen altägyptischer Kunst und Kulturgeschichte war. Ihr Buch „Die Plastik der Ägypter“ erschien im selben Verlag und etwa zeitgleich zu Carl Einsteins „Negerplastik“ und erlebte vier Auflagen mit 26.000 Exemplaren. Von den Nationalsozialisten verfolgt nahm sich Fechheimer, die in Berlin als Gasthörerin Kunstgeschichte studiert hatte – ebenso wie Carl Einstein zwei Jahre zuvor – 1942 das Leben. Während das Werk des einen heute gut erforscht und sorgfältig ediert vorliegt, ist das der anderen mittlerweile so gut wie vergessen.
Ebenso faszinierend wie die Wiederentdeckung der Schriften Fechheimers ist die Wirkung der Wiener Lehrkanzel von Josef Strzygowski, aus der zahlreiche namhafte Kunsthistorikerinnen hervorgingen, von denen Stella Kramrisch, Katharina Otto-Dohrn und Eleanor von Erdberg in die neu erschienene Anthologie Aufnahme fanden. Sie alle engagierten sich für die Vermittlung und Anerkennung der außereuropäischen Kunst, vor allem der Kunst Asiens.
Sinnvoll ist die Begrenzung der Neuerscheinung auf wichtige Protagonistinnen bis zum Wirkungszeitraum 1980. Dies schützte den Band vor möglicher Konkurrenz noch lebender Fachvertreterinnen. Zu der jüngsten, hier noch vertretenen Generation gehört die 1933 geborene und 2007 verstorbene Jutta Held, deren Monografie über Antoine Watteaus Programmbild „Einschiffung nach Kythera“ aus der wegweisenden Reihe „kunststück“ des S. Fischer-Verlages es leider nicht in die Auswahlbibliografie der Autorin geschafft hat.
Die getroffene Auswahl der vorgestellten Kunsthistorikerinnen ist notwendigerweise subjektiv und streitbar; so vermissen wir Essays zu Erica Tietze-Conrat, Grete Ring, Hanna Stirnemann oder Herta Wescher. Ärgerlich sind indes einige, unverständliche technische Unzulänglichkeiten: So fehlt die bedeutende erste Bibliografin kunstwissenschaftlicher Dissertationen von Frauen, Elisabeth Boedeker, im Register des Bandes, obwohl ihre Rolle – zumindest in einer der zahlreichen Fußnoten – erkannt und gewürdigt wird. Mangelnde Lektoratssorgfalt lässt Rosa Schapire in einer Bildunterschrift vermeintlich gleichzeitig in Dangast und an der Ostsee weilen. Am Ärgerlichsten jedoch sind die knappen Seiten mit den „Auswahlbibliografien“ der vorgestellten Kunsthistorikerinnen, die häufig – wie im Falle Schapires – kaum mehr als zur Hälfte gefüllt sind, obwohl nicht nur sie eine ebenso fleißige wie einflussreiche Publizistin war. So jedoch wird der Eindruck vermittelt, die vorgestellten Fachvertreterinnen hätten nur wenig publiziert und nur spärliche Spuren hinterlassen.

17.09.2021
Rainer Stamm
Kunsthistorikerinnen 1910–1980. Theorien, Methoden, Kritiken. Beiersdorf, Leonie; Below, Irene; Breuer, Gerda; Bruhn, Matthias; Chichester, K. Lee; Danilowitz, Brenda; Dogramaci, Burcu; Doll, Nikola; Dorgerloh, Annette; Fend, Mechthild; Fricke, Beate; Gierlichs, Joachim; Goldenbaum, Laura; Göttler, Christine; Grasskamp, Anna; Haug, Henrike; Janzing, Godehard; Mahler, Luise; Paul, Barbara; Sölch, Brigitte; Szwast, Miriam; Trinks, Stefan; Ziebritzki, Johanna. Hrsg.: Chichester, K. Lee; Sölch, Brigitte. Deutsch. 350 S. 25 Farb- und 50 s/w-Abb. 20,5 x 14,5 cm. Br. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2021. EUR. 29,95.
ISBN 978-3-496-01636-6   [Dietrich Reimer Verlag]
 
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